Lectrix – Notizen einer Leserin

28. Juli 2006

Jose Saramago: Die Stadt der Blinden

Filed under: Jose Saramago — Lectrix @ 16:40

Gewiss ein beklemmendes Buch.
Sicherlich eine lesenswerter Roman.
Bestimmt eine Geschichte, die ernüchtert.
Auf jeden Fall ein Werk, dass zum Nachdenken anregt.

Anfangs störte mich der eigenwillige Umgang des Autoren mit der Interpunktion. Es werden recht wenige Punkte verwendet, dafür gibt es umso mehr Kommas. Passend dazu sind auch Absätze in diesem Buch kaum zu finden, alle Seiten sind fast komplett durchgeschrieben. Nichts hemmt somit den Lesefluss, nichts unterbricht den Gedankengang – wenn man sich erstmal auf diesen Schreibstil eingelassen und daran gewöhnt hat.

Insbesondere bei der Wiedergabe von Dialogen irritiert das Fehlen von Anführungszeichen, Satzendzeichen sowie trennenden Absätzen. Dies zwingt zum sehr bewussten Lesen. Wenn man den Anschluss nicht verlieren will, darf man also nicht einfach über die Zeilen huschen, jedes Wort will wahrgenommen werden. Dadurch kann man dem, was Jose Saramago so schonungslos darstellt, nicht entfliehen. Entweder man liest diesen Roman also ganz oder gar nicht.
Ihn ganz zu lesen lohnt.

Es beginnt mit einer zunächst ganz alltäglich wirkenden Situation, die sich aber sehr schnell, als gar nicht alltäglich erweist:

Endlich leuchtete das grüne Licht auf, die Autos fuhren abrupt an, doch sofort bemerkte man, daß nicht alle zugleich losgefahren waren. Das erste in der mittleren Reihe steht, da muß es irgendein technisches Problem geben, vielleicht ist das Gaspedal locker, oder die Schaltung sitzt fest, oder etwas am hydraulischen System ist defekt, die Bremsen sind blockiert, ein Fehler in der Stomversorgung, oder es ist einfach das Benzin ausgegangen, es wäre nicht das erste Mal, daß so etwas vorkommt. Die Gruppe von Fußgängern, die sich erneut auf dem Bürgersteig angesammelt hat, sieht, wie der Fahrer des stehenden Wagens hinter der Windschutzscheibe aufgeregt gestikuliert, während die Autos hinter ihm wütend hupen. Einige Fahrer sind schon auf die Straße gesprungen, bereit, das stehengebliebene Auto auf die Seite zu schieben, damit es den Verkehr nicht mehr behindert, sie klopfen heftig gegen die geschlossenen Scheiben, der Mann im Auto wendet ihnen das Gesicht zu, zur einen, dann zur anderen Seite, man sieht, daß er etwas ruft, an der Bewegung seiner Lippen sieht man, daß er ein Wort wiederholt, nicht eins, nein, in Wirklichkeit sind es drei, wie man erfahren wird, wenn endlich jemand die Tür öffnen kann, Ich bin blind.
(Jose Saramago: Die Stadt der Blinden, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 9 f.)

Dies ist der Erste, der an der seltsamen Blindheit erkrankt, die ohne jegliche Vorzeichen ganz abrupt auftritt und sich epidemieartig auszubreiten beginnt. Jose Saramago nennt ihn im weiteren Verlauf des Buches einfach „den ersten Blinden“. Der Mann, der ihn nach Hause fuhr und ihm anschließend seinen Wagen klaute, ist der zweite. Er wird folgend als „der Dieb“ bezeichnet. Auch „der Arzt“, ein Augenarzt, den er zur Untersuchung seines Leidens aufsuchte, sowie „der kleine schielende Junge“ und „die junge Frau mit der dunklen Brille“, die sich im Wartezimmer befanden, erblinden bald darauf. Zusammen mit „der Frau des Arztes“, die vorgibt ebenfalls erblindet zu sein, um bei ihrem Mann bleiben zu können, sind dies die ersten, die von der Regierung unter Quarantäne gestellt werden, um die Epidemie einzudämmen und die restliche Gesellschaft vor der Krankheit zu schützen.

Eine angemessene Reaktion, sollte man meinen. Ich, Illusionistin, ging dabei zunächst selbstverständlich davon aus, dass man die Betroffenen in eine Art Krankenhaus bringen und von Ärzten in Schutzkleidung untersuchen und von Personal in Schutzkleidung versorgen lassen würde. Jose Saramago hingegen beschreibt, dass sie zu einer stillgelegten und heruntergekommenen Irrenanstalt gebracht werden. Diese ist von Soldaten umstellt, die jeden Kontakt zur Außenwelt verhindern sollen. Lediglich regelmäßig mit Lebensmittelkisten versorgt, sollen sie selbst ’sehen‘, wie sie klarkommen. Man bekommt in diesem Buch absolut ernüchternd vorgeführt, wie zynisch Entscheider und wie schnell in Krisen Menschenrechte hinfällig werden können…

Das Gesundheitsministerium hatte das Verteidigungsministerium benachrichtigt, Wir werden vier Busse voll schicken, Und wie viele sind das dann, Ungefähr zweihundert, Und wo sollen wir all diese Leute unterbringen, nach unseren Informationen sind nur drei Säle im rechten Flügel für die Blinden bestimmt, die vollständige Belegung wurde mit einhundertzwanzig angegeben, und dort sind schon sechzig oder siebzig, die zwölf, die wir töten mußten, nicht mitgerechnet, Da gibt es Abhilfe, es werden alle Säle belegt, Dann werden die Infizierten in direkten Kontakt mit den Blinden kommen, Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese früher oder später ebenfalls erblinden werden, so wie die Lage übrigens ist, vermute ich, daß wir alle schon infiziert sind, mit Sicherheit gibt es nicht einen einzigen Menschen, der nicht in Sichtweite eines Blinden gewesen ist, Wenn ein Blinder nicht sehen kann, so frage ich mich, wie kann er dann über den Blick die Krankheit übertragen, Herr General, dies muß die logischste Krankheit der Welt sein, das Auge, das blind ist, überträgt die Blindheit auf das Auge, das sieht, nichts einfacher als das, Wir haben einen Oberst, der glaubt, die Lösung liege darin, daß wir die Blinden töten, wenn sie auftauchen, Tote anstelle von Blinden würden nicht viel an der Situation ändern, Blind sein bedeutet nicht tot sein, Ja, aber tot sein bedeutet blind zu sein, Gut dann sind es etwa zweihundert, Ja, Und was machen wir mit den Fahrern der Busse, Stecken Sie sie auch dorthin.
(Jose Saramago: Die Stadt der Blinden, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 135 f.)

Immer mehr wird man im Verlauf der Geschichte mit der Frage konfrontiert, ob das von Jose Saramago geschilderte egoistische Verhalten nun un-menschlich oder leider nur allzu-menschlich ist. Beginnend mit dem kleinen Vergehen, dass jemand sich nicht mehr bemüht blind den weiten Weg zur Toilette zu ertasten, sondern sich einfach gleich im Korridor erleichtert, weil es ja keiner sieht. Bis zu denjenigen, denen es gelingt sämtliche innerhalb der Irrenanstalt verfügbaren Lebensmittel an sich zu bringen, und damit die Frauen zwingen, sich ihnen hinzugeben, um sich und den anderen ihres Schlafsaales etwas zu Essen zu verschaffen. Wie zivilisiert sind wir eigentlich wirklich, ist die Frage, die hinter allem immer wieder auftaucht. Wie leicht verfallen wir wieder ins Barbarentum? Unterscheiden wir uns wirklich von den Tieren? Wenn ja, nur dadurch, dass wir uns noch animalischer verhalten?

Dadurch, dass in dem ganzen Roman kein einziger Name Verwendung findet – weder für die Stadt noch für eine der Personen – ensteht einerseits eine gewisse Distanz. Andererseits kann man es so nicht einfach einem anderen, fernen Land zuordnen. Mittels dieses Kniffs wird also hervorragend verdeutlicht, dass es jederzeit an jedem Ort jedem passieren könnte.
Man kann diesen Roman deshalb sicherlich als philosophische Studie auffassen, als konsequent immer weiter gedachtes Gedankenspiel…
Und auch wenn Jose Saramago es leider für angebracht zu halten schien, die Handlung unbedingt mit einem Happy End zu versehen:
Die von ihm aufgeworfenen Fragen bleiben bestehen.


27. Juli 2006

Terry Pratchett & Neil Gaiman: Ein gutes Omen

Filed under: Neil Gaiman,Terry Pratchett — Lectrix @ 21:56

Vor einigen Jahren (Anfang/Mitte 1998 war es vermutlich) lasen wir uns diesen Roman schon einmal gegenseitig vor und amüsierten uns dabei herrlich.
Nachdem wir nun ein so vergnügliches Buch von Terry Pratchett lasen (MacBest) und eine so packende Geschichte von Neil Gaiman (Niemalsland), was lag da näher, als sich dieses Gemeinschaftsprojektes zu entsinnen und es im nächsten Buchladen zu bestellen.
Mittlerweile haben wir es schon wieder durch und ich meine, wir amüsierten uns sogar noch mehr als beim ersten Mal.

Womit sollte man beginnen, wenn man einen Roman über den Weltuntergang schreiben möchte? Terry Pratchett und Neil Gaiman entschieden sich dafür, mit dem Gespräch zwischen einem Engel – der das Osttor des Paradieses bewacht und dessen Name Erziraphael lautet – und einem Dämonen – der in der Gestalt einer Schlange auftritt und Kriecher heißt – einzusetzen, kurz nachdem diese sich das erste Mal in die Belange der Menschen einmischten. Beide überlegen bereits, ob sie Fehler gemacht haben. Die Schlange zweifelt, ob es wirklich schlecht war Adam und Eva zum Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis zu verleiten. Und auch der Engel fragt sich besorgt, ob er den Menschen sein Flammenschwert wirklich hatte schenken sollen. Aber er hatte solches Mitleid mit Ihnen, als sie vertrieben wurden, denn er fürchtete, dass sie frieren würden und den wilden Tieren schutzlos ausgeliefert seien…

Dann werden knapp sechstausend Jahre übersprungen und die Geschichte setzt in der Nacht der Ankunft des Antichristen, des Sohnes Satans, im England unserer Tage wieder ein. „Es war keine dunkle und stürmische Nacht. Eigentlich sollte es eine dunkle und stürmische Nacht sein, aber auf das Wetter ist eben kein Verlaß.“ Crowley, wie sich Kriecher inzwischen nennt, bringt das Baby zwar dem ihm von unten erteilten Auftrag gemäß zu einem Kloster satanischer Nonnen, wo es gegen das Neugeborene der Frau eines amerikanischen Botschafters ausgetauscht werden soll. Er trifft sich aber bald darauf mit dem Engel Erziraphael, der ebenfalls immer noch auf Erden weilt, und verrät ihm den teuflischen Plan: Am elften Geburtstag des Antichristen wird der Höllenhund zu ihm kommen und kurz darauf wird er die Apokalypse heraufbeschwören.
Gemeinsam wollen der Engel und der Dämon versuchen, den Weltuntergang noch ein wenig hinaus zu zögern, denn eigentlich fühlen sich beide inzwischen auf der Erde ganz wohl…

Neil Gaiman und Terry Pratchett lassen folgend ein Feuerwerk skuriller Ideen auf den Leser los, die sich grob an den Offenbarungen des Johannes orientieren, den Film ‚Das Omen‘ parodieren und auf die Prophezeihungen des Nostradamus anspielen, aber alles in unsere Zeit übersetzt, wodurch von Ihnen mit Humor – aber dennoch durchaus kritisch – nebenbei auf etliche soziale und umweltpolitische Problematiken und gesellschaftliche Fehlentwicklungen hingewiesen wird.

Beispielhaft für die vorgenommenen Modernisierungen kann man vielleicht anführen, dass die vier Apokalyptischen Reiter nicht mehr auf Rössern herannahen, sondern als wahre Hell’s Angels auf Motorrädern unterwegs sind. Es handelt sich im Übrigen nicht mehr um Krieg, Hunger, Pestilenz und TOD, sondern nun um Krieg, Hunger, Umweltverschmutzung und TOD. Pestilenz hatte sich nämlich 1936, nach Erfindung des Penizilins, in den Ruhestand zurückgezogen. Umweltverschmutzung war die Nachfolge angetreten, da er die Zukunft für vielversprechend hielt. Andere passten ihr Vorgehen den veränderten Zeiten an:

Sable hatte schwarzes Haar einen sorgfältig gepflegten schwarzen Bart und gerade beschlossen, eine Aktiengesellschaft zu gründen.
Er stieß mit seiner Buchhalterin an.
»Wie läuft’s, Frannie?« fragte er sie.
»Bestens. Bisher haben wir zwölf Millionen Exemplare verkauft. Ist das zu fassen?«
[…]
Ein Skelett unterbrach sie. Aber es war kein gewöhnliches Skelett. Dieses Skelett trug ein Dior-Kleid, und sonnengebräunte Haut spannte sich fast bis zum Zerreißen straff über die Knochen des Schädels. Es hatte langes blondes Haar und perfekt geschminkte Lippen. Ja, Sie haben richtig getippt: eine Frau. Sie sah aus wie eine jener Personen, auf die Mütter zeigen, um ihre Sprößlinge zu warnen: ›Das passiert mit dir, wenn du dein Gemüse nicht ißt.‹ Kennen Sie die Plakate, die auf Hungersnöte in Afirka hinweisen und um Spenden bitten? Diese Frau hätte dafür sorgen können, daß sich die Kassen der verschiedenen Hilfsorganisationen innerhalb weniger Tage füllen.
Sie war das berühmteste Fotomodell New Yorks – und sie hielt ein Buch in der Hand. »Äh, bitte entschuldigen Sie, Mister Sable. Ich möchte Sie nicht stören, sondern mich nur bei Ihnen bedanken, weil Sie mein Leben geändert haben. Wären Sie vielleicht so nett, Ihr Werk für mich zu signieren?« Ihre tief in den Höhlen liegenden, üppig mit Lidschatten bemalten Augen starrten Sable flehentlich an.
Er nickte großzügig und nahm das Buch entgegen.
Es überraschte ihn nicht, daß ihn die Frau erkannt hatte: die silberne Rückseite des Covers zeigte sein Foto. D-Plan Diät: Wie man schlank und attraktiv wird lautete der Titel. Und: Das Diät-Buch des Jahrhunderts!
(Terry Pratchett & Neil Gaiman: Ein gutes Omen, 2. Auflage, München: Pieper 2006, S. 74-76)


24. Juli 2006

Paulo Coelho: Der Alchimist

Filed under: Paulo Coelho — Lectrix @ 8:06

An diesem Wochenende las ich Paulo Coelhos ‚Der Alchimist‘
und bei dem zur Zeit herrschenden heißen Wetter war dieser leicht zu lesende Text genau das Richtige.

Dieser Roman ist zwar nicht im Lucy Körner Verlag erschienen, hätte aber gut in dessen Verlagsprogramm gepasst. Wer dessen schönen, märchenhaften Texte mochte und wen es nicht stört, dass stets alles moralisierend und ratgebend wirkt, dem wird auch dieser bei Diogenes erschienene Roman gefallen.

Mitnehmen werde ich aus dieser Geschichte vor allem einen Rat, den der Alchimist dem Jüngling eher am Rande gab:

Alles, was Dir einmal passiert, passiert möglicherweise nie wieder. Aber alles, was zweimal passiert, wird sicher auch ein drittes Mal passieren.
(Paulo Coelho: Der Alchimist, Zürich: Diogenes 1996, S. 162)


21. Juli 2006

Eric-Emmanuel Schmitt: Das Evangelium nach Pilatus

Filed under: Eric-Emmanuel Schmitt — Lectrix @ 17:30

Gerade habe ich die letzten Seiten dieses Buches gelesen.
Und, was soll ich schreiben: Ich bin begeistert!

Ich bin begeistert von diesem Buch.
Oder besser:
Ich bin begeistert von allen drei Teilen dieses Buches, so unterschiedlich sie sind:

Prolog. Beichte eines zum Tode Verurteilten am Abend seiner Verhaftung
Das Evangelium nach Pilatus
Chronik eines gestohlenen Romans

Nachfolgend möchte ich sie deshalb zunächst einzeln vorstellen,
bevor ich abschließend noch etwas zum Buch im Ganzen anfüge.

Prolog. Beichte eines zum Tode Verurteilten am Abend seiner Verhaftung

Eric-Emmanuel Schmitt wagt, die Ich-Perspektive Jesu einzunehmen. Er befindet sich auf dem Ölberg und wartet darauf, dass Judas die Häscher zu ihm führt. Während er wartet denkt er zurück, wie es dazu gekommen ist, dass er nun dort steht und darauf wartet verraten und zum Tode verurteilt zu werden. In Rückblenden erfahren wir von seinem Leben, von seinem Glauben, aber auch von seinen Zweifeln.

Meines Erachtens ist dieser Prolog sowohl für einen gottgläubigen Christen als auch für einen Atheisten gleichermaßen interessant zu lesen. Denn Eric-Emmanuel Schmitt gelingt die Gratwanderung, Jesus einerseits als einen Menschen darzustellen, dem sich andere Menschen anschließen, weil seine Lehren sie faszinieren und sie in ihm Gottes Sohn sehen, andererseits dessen eigenen Zweifel an der ihm zugesprochenen Rolle zu vermitteln, ohne ihm dabei seiner Außergewöhnlichkeit zu berauben. Denn bei der Lektüre des Prologes wird einem immer klarer, dass das Opfer Jesus umso bedeutsamer ist, wenn er nicht wusste, ob er der Messias ist. Im Vertrauen auf die Prophezeihungen, ging er das Wagnis ein, an die Auferstehung zu glauben. So stark zu glauben, dass er sein Leben darauf setzte. Und so wartet er denn am Ölberg darauf, dass Judas die Häscher zu ihm führt.

In ein paar Stunden wird es offenbar, ob ich tatsächlich für meinen Vater Zeugnis ablege oder nur ein Wahnsinniger bin. Einer mehr.
Der große, der einzige Beweis erfolgt erst nach meinem Tod. Wenn ich mich täusche, werde ich es nicht einmal merken, weil ich im Nichts, in der Belanglosigkeit, im Unbewußten treiben werde. Behalte ich recht, will ich versuchen, beim Überbringen der frohen Botschaft nicht zu triumphieren, denn ich habe nie für mich gelebt, und ich sterbe auch nicht für mich.
(Eric-Emmanuel Schmitt: Das Evangelium nach Pilatus, Zürich: Amman-Verlag 2005, S. 82)

Das Evangelium nach Pilatus

Der zweite Teil des Buches ist im Stil eines Briefromans gehalten. Das eröffnet dem Autoren die Möglichkeit trotz eines von sich selbst sehr überzeugten Ich-Erzählers dessen Irrwege nach zu zeichnen. Immer wieder kann Pontius Pilatus seinem Bruder Titus schreiben, was die Lösung ist. Und im nächsten Brief einräumen, dass es so doch nicht gewesen sein kann und stattdessen eine neue Spur aufzeigen, der er folgt. Da Titus noch nie in Palästina war, sondern im fernen Rom weilt, bietet es außerdem einen guten Anlass, die verschiedenen politischen und religiösen Gruppierungen in Jerusalem kurz vorzustellen, sobald ihnen im Laufe seiner Ermittlungen eine Rolle zufällt. Und Pilatus muss ermitteln, will er einem drohenden Volksaufstand vorbeugen.

Am Abend des Pascha-Festes konnte er noch schreiben:

Ich habe wie immer das Schlimmste befürchtet, bin aber wie jedes Jahr Herr der Lage geblieben. Alles ist glimpflich abgelaufen, ohne größere Zwischenfälle. Fünfzehn Verhaftungen und drei Kreuzigungen mußten wir vornehmen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, nur das Übliche also.
(Eric-Emmanuel Schmitt: Das Evangelium nach Pilatus, Zürich: Amman-Verlag 2005, S. 87)

Aber der folgende Brief beginnt mit:

Die Leiche ist weg!
Ich hatte gerade meinen gestrigen Brief an Dich zusammengerollt, da stürzt der Zenturion Burrus herein und macht mir eine erschreckende Meldung: »Die Leiche ist weg!«
Ich habe sofort begriffen, daß er diesen Magier aus Nazareth meint, und ahne schon die Verwicklungen, die auf mich zukommen werden, wenn wir die Leiche nicht bald finden.
(Eric-Emmanuel Schmitt: Das Evangelium nach Pilatus, Zürich: Amman-Verlag 2005, S. 88)

Chronik eines gestohlenen Romans

Der letzte Teil kann in der Orginalausgabe nicht enthalten gewesen sein, nimmt er doch Bezug auf Ereignisse, die erst nach der Veröffentlichung der Erstauflage geschahen, z.B. die Reaktion der Presse und der Leserschaft auf dieses Buch.
Lesenswert fand ich ihn, weil nun der Autor selbst als Ich-Erzähler auftritt und dem Leser Zeugnis ablegt, von seinen Überzeugungen, den Gründen, die ihn veranlassten, bestimmte Szenen im vorhergehenden Roman auf bestimmte Weise darzustellen und welche Überwindung ihn die Arbeit an diesem Buch abverlangte.

Es gibt Worte, die brennen. »Ich, Jesus von Nazareth« zu schreiben ist eine Überschreitung, die mich jahrelange Grübeleien gekostet hat. Ein Atheist hätte dabei keine Probleme; ein Jude oder Muslim nur ein paar leicht überwindliche Skrupel; für einen Christen jedoch ist das Vorhaben, im Namen dessen zu sprechen, den er als transzendenten Gott betrachtet, erschreckend, weil im Grunde ein Sakrileg.
Das war sicher der Grund dafür, dass ich diese Arbeit ständig verlegt und verschoben habe… Nicht aus Angst vor dem Roman. Sondern aus Angst vor diesem Roman.
(Eric-Emmanuel Schmitt: Das Evangelium nach Pilatus, Zürich: Amman-Verlag 2005, S. 296)

Im Ganzen

Drei Ich-Erzähler also.
Drei verschiedene Perspektiven.
Drei verschiedene Zeiten (Vor der Auferstehung, nach der Auferstehung, heute).

Aber gemeinsam in dem Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns.

Und alles regt zum Nachdenken an.
Über Jesus, über Gott und über die eigene Stellung diesen und der Welt gegenüber.


19. Juli 2006

Neil Gaiman: Niemalsland

Filed under: Neil Gaiman — Lectrix @ 12:02

Von diesem Roman ließen wir uns von Anfang an fesseln. Kaum hatten wir die ersten Seiten gelesen, waren wir neugierig darauf, wie es weitergeht und worauf es hinauslaufen wird. Und so lasen wir uns dieses Buch in erstaunlich kurzer Zeit gegenseitig vor, da wir jede freie Minute nutzen, um fortzufahren.

Neil Gaiman entführte uns in eine Fantasy-Welt, die nicht irgendwann sonstwo liegt, sondern parallel zu der uns bekannten Welt (genauer London) zu existieren scheint, allerdings relativ ungebunden an unsere Zeitvorstellungen ist. Ein wahres Niemalsland.

Es handelt sich um eine recht archaische Welt, die bevölkert wird von zum Teil äußerst skurilen Gestalten. Jedoch gibt es auch eine Menge Kontaktpunkte mit dem, was wir als Realität auffassen. Viele der Bewohner Unter-Londons, waren nämlich zuvor Menschen Londons, bis sie durchs Netz fielen. Einige Wenige führen eine Art Halbleben. Die meisten haben mit den Menschen von Ober-London aber direkt nichts mehr zu tun. Sie nutzen nur deren U-Bahnen und Kanalisationsanlagen als Wege und deren Katakomben und Geisterbahnhöfe als Wohnstätten. Und das macht den besonderen Reiz aus, denn bald schon beginnt sich der Leser zu fragen, warum bestimmte U-Bahnhöfe bestimmte Namen tragen. Heißt der Bahnhof so, weil dort diese Gruppierung wohnt, oder wohnen da solche Gestalten, weil der Bahnhof so heißt. Eine Frage, die im Verlauf des Buches zwar nicht geklärt wird, aber auch gar nicht unbedingt geklärt werden muss. Der Einfallsreichtum Neil Gaimans bezaubert auch so.

Alles beginnt damit, dass der junge Investment-Banker Richard Mayhew eines Abends ein jung wirkendes Mädchen in zerlumpter Kleidung und offensichtlich schwer verletzt auf dem Gehweg liegen sieht und es mit zu sich nach Hause nimmt, da es nicht will, dass er einen Krankenwagen für es ruft. Bis dahin führte er ein recht normales Leben. Er hatte eine attraktive Verlobte, einen guten Job und eine schöne Wohnung.
Nachdem er für das Mädchen, welches sich als Door vorstellte, nach dessen Anweisungen auf recht skurile Weise Hilfe organisierte, muss er feststellen, dass ihn niemand mehr wahrzunehmen scheint. Kein Taxi hält, als er danach winkt, sein Schreibtisch steht nicht mehr an seinem Platz, sein bester Freund erkennt ihn nicht, seine Wohnung wird von Interessenten besichtigt und selbst der Geldautomat akzeptiert seine Kreditkarten nicht mehr. Es scheint ihn aber auch niemand zu vermissen. Vielmehr verhält sich alles so, als ob er nie existiert hätte.
In der Hoffnung, mit ihrer Hilfe wieder in sein vorheriges Leben zurückkehren zu können, sucht Richard Mayhew das Mädchen Door, wodurch er nach Unter-London gerät.
Door ihrerseits versucht die Hintergründe der kürzlich erfolgten Ermordung ihrer ganzen Famile, eines Adelsgeschlechts Unter-Londons, herauszufinden und zu ergründen, weshalb die Horrorgestalten Mr. Vandemar und Mr. Croup sie selbst verfolgen…

Mehr sollte ich von der Handlung nicht verraten, will ich zukünftigen Lesern nichts von der Spannung rauben. Darum stattdessen abschließend eine Aneinanderreihung das Buch beschreibender Adjektive: fantasievoll, zum Teil grausam, aber manchmal auch romantisch, durchaus humorvoll, oft düster, aber irgendwie auch bunt, gespickt mit amüsanten Einfällen, durchgängig spannend und immer wieder überraschend!


4. Juli 2006

Terry Pratchett: Lords und Ladies – Ein Scheibenwelt-Roman

Filed under: Terry Pratchett — Lectrix @ 11:16

‚Lords und Ladies‘ ist eine Enttäuschung.
Vielleicht erwarteten wir nach der recht stringenten Handlung, den vielen Anspielungen und dem abwechslungsreichen Geschehen in ‚MacBest‚ auch einfach zu viel. Aber auf Seite 48 angekommen beschlossen wir, dass uns die Geschichte eigentlich nicht interessiert und wir keine Lust haben, weiter zu lesen. Darum legten wir das Buch weg.
Ich selbst werde das Buch später (in einigen Wochen oder irgendwann) sicher noch einmal zur Hand nehmen, um es allein zu lesen. Nicht weil mich die bisherige Geschichte um die überall auftauchenden Kornkreise und das anscheinend hinter den Steinkreisen lauernde Winterland doch interessieren würde, sondern lediglich, um herauszufinden, ob meine Vermutung sich bewahrheitet, dass es sich bei dem auf den ersten Seiten beschriebenen jungen, wissbegierigen Mädchen Esmeralda, um Oma Wetterwachs handelt, die ja in ‚MacBest‘ von Nanny Ogg desöfteren mit Esme angeredet wird.
Vielleicht geht Terry Pratchett im weiteren Verlauf ja ausführlicher auf die Vorgeschichte von Oma Wetterwachs ein. Vielleicht gelingt es ihm dann ja, mein Interesse zu wecken und mich zu fesseln. Darum werde ich diesem Roman später sicherlich nochmals eine Chance einräumen. Momentan haben wir aber Interessanteres zu lesen…


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