Lectrix – Notizen einer Leserin

2. Februar 2007

Jonathan Stroud: Bartimäus. Das Amulett von Samarkand

Filed under: Jonathan Stroud — Lectrix @ 17:43

Zu Weihnachten bekam ich „Bartimäus. Das Amulett von Samarkand“ geschenkt. Da ich schon zuvor von einigen Freunden gehört hatte, dass Strouds Trilogie um Bartimäus lesenswert sein soll, schlug ich sogleich gespannt die erste Seite auf, wo ich las:

Die Temperatur im Zimmer sank rasch. Eis bildete sich auf den Vorhängen und überzog die Deckenlampen mit einer dicken Kruste. Die Glühfäden sämtlicher Birnen schnurrten zusammen und verglommen, und die Kerzen, die wie eine Kolonie Giftpilze aus jeder freien Fläche sprossen, erloschen. Das abgedunkelte Zimmer füllte sich mit einer stickigen gelben Schwefelwolke, in der verschwommene schwarze Schatten wühlten und waberten, und von weit her erklang ein vielstimmiger Schrei. Plötzlich drückte etwas gegen die Tür, die hinaus zur Treppe führte. Das ächzende Gebälk wölbte sich. Unsichtbare Füße patschten über die Dielen und unsichtbare Lippen zischelten Niederträchtigkeiten hinter dem Bett und unter dem Schreibtisch hervor.
Der Schwefeldampf verdichtete sich zu einer dicken Rauchsäule und würgte kleine Tentakel aus, die wie Zungen in die Luft leckten und sich wieder zurückzogen. Die Säule stand direkt über dem Pentagramm und brodelte unablässig zur Decke empor wie die Rauchwolke über einem Vulkan. Dann, nach einer kaum merklichen Unterbrechung, tauchten mitten im Rauch zwei gelbe, stechende Augen auf.
Also bitte – es was sein erstes Mal. Ich wollte ihm einen Schrecken einjagen!
(Jonathan Stroud: Bartimäus. Das Amulett von Samarkand, übersetzt von Katharina Orgaß und Gerald Jung, 4. Auflage, München: blanvalet 2006, S. 9)

Wenn das kein fulminanter, stimmungsvoller und zugleich amüsanter Einstieg ist. Mich sprach das jedenfalls sehr an und machte mir Lust auf mehr. Doch da sich dieses Buch nun in meinem Besitz befand, vertagte ich die Lektüre auf später und wandte mich zunächst dem im Bücherregal unserer Gastgeber entdeckten „Ein Hut voller Sterne“ und dem den Gastgebern geschenkten „Coraline“ zu.

Da ich dann „Bartimäus“ zwischenzeitlich auch noch meinen Lebenspartner lesen ließ, kam ich erst jetzt dazu es selbst zu lesen.

Nach der Lektüre bin ich nun etwas zwiegespalten.

Der oben zitierte Auftakt gefiel mir auch beim zweiten Lesen.

Dann beginnt Jonathan Stroud ganz nach meinem Geschmack voller Anspielungen auf alte Legenden auch noch eine Art Parallelgeschichte anzulegen, wie unsere Welt aussehen könnte, wenn es Magie gäbe:

Das Land zu schützen. Vergiss nicht, wir haben Krieg. Prag beherrscht immer noch die Ebenen östlich von Böhmen, und wir können nur mit Mühe verhindern, dass die Tschechoslowakei auch noch Italien besetzt. Wir leben in unruhigen Zeiten. In London wimmelt es von Spionen und Aufwieglern. Wenn wir das Empire zusammenhalten wollen, brauchen wir eine starke Regierung, will sagen, wir brauchen Zauberer. Stell Dir mal vor, wie unser Land ohne Zauberer aussähe! Nicht auszudenken, wenn die Gewöhnlichen das Sagen hätten! Wir würden im Chaos versinken und wären einer Invasion wehrlos ausgeliefert. Nur unsere Anführer stehen zwischen uns und der totalen Anarchie. Halte dir das immer vor Augen, Junge: Dein Ziel ist es, ein rechtschaffenes Mitglied der Regierung zu werden.
(Jonathan Stroud: Bartimäus. Das Amulett von Samarkand, übersetzt von Katharina Orgaß und Gerald Jung, 4. Auflage, München: blanvalet 2006, S. 74)

Wie zu erwarten kommt es im weiteren Verlauf des Buches zu erstem Aufruhr, den Jonathan Stroud durchaus beeindruckend einfängt:

Zerspringt eine Elementenkugel in einem geschlossenen Raum hat das schreckliche und zerstörerische Folgen: je kleiner der Raum, beziehungsweise je größer die Kugel, desto verheerender die Wirkung. Nathanael und der Großteil der versammelten Zauberer konnten von Glück sagen, dass die Westminster Hall so riesig und die betreffende Kugel relativ klein war. Trotzdem war das Resultat bemerkenswert.
Als das Glas zersplitterte, stoben die Elemente, die darin seit vielen Jahren zusammengesperrt gewesen waren und einander aufgrund ihrer unterschiedlichen Naturen und der begrenzten Verständigungsmöglichkeiten zutiefst verabscheuten, mit ungezügelter Gewalt auseinander. Feuer, Wasser, Luft und Erde – alle vier entwichen mit rasender Geschwindigkeit aus ihrem winzigen Gefängnis und entfesselten nach allen Richtungen ungeheures Chaos. Wer zufällig in der Nähe stand, wurde gleichzeitig vom Sturm umgeworfen, mit Steinen bombardiert, vom Feuer versengt und von Flutwellen überrollt. […]
Die meisten mächtigeren Zauberer kamen so gut wie unversehrt davon. Sie hatten ihre Sicherheitsvorkehrungen getroffen, zumeist in Gestalt gefangener Dschinn, die angewiesen waren, sich sofort zu materialisieren, sobald sie feindliche Magie in der Nähe ihrer Meister registrierten. Schutzschilde lenkten die Wassergüsse, Flammenstöße und umherfliegenden Erdbrocken ab oder absorbierten sie und ließen die Windböen heulend ins Deckengebälk fahren.
(Jonathan Stroud: Bartimäus. Das Amulett von Samarkand, übersetzt von Katharina Orgaß und Gerald Jung, 4. Auflage, München: blanvalet 2006, S. 230)

An derartigen Passagen wird auch deutlich, dass Zauberer in dieser von Jonathan Stroud entworfenen Welt anders agieren, als man das üblicherweise gewohnt ist. Sie können gar nicht selbst zaubern – sie beschwören und beherrschen vielmehr nur Dämonen bzw. Elementare, die das können. Zauberer sind also nur durch Unterdrückung an der Macht. Unterdrückung der Gewöhnlichen. Sowie Unterdrückung der Dämonen.

Durch die Art der Beschreibung dieses Gesellschaftssystems – und insbesondere des arroganten Verhaltens einzelner Zauberer gegenüber einzelner Unterdrückter – bezieht Jonathan Stroud eigentlich eindeutig Stellung und lässt erwarten, dass im Mantel des Fantasyromans – quasi als Parabel – Gesellschaftskritik geübt werden soll.

Stattdessen konzentriert sich die Handlung im Folgenden auf einen einzigen Handlungsstrang, bei dem es zwar zu packenden Verfolgungsjagden, faszinierenden Einbrüchen und einem beeindruckenden Showdown kommt, aber…

So kommt es zu meinem Zwiespalt, denn natürlich ist das Buch spannend und besser als Vieles andere in diesem Genre. Doch nachdem der Autor so vielversprechend anfing, habe ich nun das Gefühl, dass man aus diesem Ansatz soviel mehr hätte machen können und bedaure die verpasste Gelegenheit.
Aber vielleicht ist das jetzt auch einfach unfair, und man sollte den ersten Band einer Trilogie, die von Anfang an als Trilogie angelegt war, erst endgültig beurteilen, wenn man die weiteren beiden Bände kennt.

Ich werde mich also bemühen, mir diese auszuleihen.


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