Lectrix – Notizen einer Leserin

5. August 2010

Paul Auster – Unsichtbar

Filed under: Paul Auster — Lectrix @ 22:30

In der Stadtbibliothek Osnabrück werden neuangeschaffte Bücher, bei denen ein Ausleihinteresse vieler Nutzer erwartet wird, zunächst im vorderen Bereich ausgestellt und ohne Verlängerungsmöglichkeit nur für einen verkürzten Zeitraum gegen eine kleine Gebühr verliehen.

Normalerweise entleihe ich so gut wie nie eines der Bücher mit diesem Sonderstatus, da man sie bereits einige Zeit später ja unter den üblichen Bedingungen entleihen kann.
Doch als ich das neue Buch von Paul Auster darunter entdeckte, dessen Übersetzung ins Deutsche soeben erschien,  nahm ich diese Möglichkeit der frühzeitigen Ausleihe doch in Anspruch.

Mit dem Anfang dieses Buches tat ich mich dann überraschend schwer. Nicht das es schlecht geschrieben wäre. Nein, es ist schon sehr gut beschrieben, wie Leute miteinander ins Gespräch kommen, die sich auf einer Party langweilen. Aber eigentlich schien mir dies belanglos. Falls Paul Auster diese Belanglosigkeit einfangen wollte, gelang ihm dies glänzend. Und auch, als dem Ich-Erzähler später von dem auf diese Weise kennengelernten Mann, Geld zur Gründung einer Literaturzeitschrift angeboten wurde, riss mich nicht mit. Auch wenn sich allmählich der unangenehme Charakter dieses Mannes anzudeuten begann, der offensichtlich gewohnt war, dass stets alles so lief, wie er es wünschte. Selbst die sich anschließend ergebende merkwürdige Dreierkonstellation zwischen dem Ich-Erzähler, dem Mann und dessen Lebenspartnerin nahm ich eher zur Kenntnis, wobei der Drang des Mannes Abhängigkeiten zu schaffen und auszunutzen sowie sein Jähzorn nun offensichtlich werden.  Inhaltlich interessant wurde es für mich erst, als dieser Mann einen Mord beging – und damit den Ich-Erzähler, der Zeuge davon wurde, in moralische Konflikte brachte, die glaubwürdig und absolut nachvollziehbar beschrieben werden. Da war ich froh, dass ich das Buch vorher nicht weggelegt hatte.

Stilistisch faszinierend wird es für mich dann, als nach dem bis jetzt vorgestellten ersten Teil des Buches, überschrieben mit „Frühling“, ein neuer Ich-Erzähler übernimmt, der knapp erläutert, wie er an den Text des ersten Ich-Erzählers gekommen ist, den er in sein Buch aufgenommen hat, und wie er dem ersten Ich-Erzähler, der in einem Brief darüber klagte, dass er beim Verfassen des Berichts über die weiteren Geschehnisse ins Stocken geraten sei, hilft, indem er ihm den einfachen Rat erteilt, nicht mehr als der Ich-Erzähler zu fungieren, sondern die Perspektive zu wechseln. Woraufhin der zweite Teil, überschrieben mit „Sommer“, überraschend das Personalpronomen „Du“ verwendet. Dieser Teil beginnt wie folgt:

Aus Frühling wird Sommer. Für Dich ist es der Sommer nach dem Frühjahr des Rudolf Born [= der reiche Mann aus dem ersten Teil], für den Rest der Welt aber ist es der Sommer des Sechstagekriegs, der Sommer der Rassenunruhen in mehr als hundert amerikanischen Städten, der Summer of Love. Du bist zwanzig Jahre alt und hast soeben dein zweites Jahr am College hinter dich gebracht. Als der Krieg im Nahen Osten ausbricht, überlegst du, ob du in die israelische Armee eintreten und Soldat werden sollst, dabei bist du überzeugter Pazifist und hast niemals das geringste Interesse am Zionismus bekundet, doch bevor du einen Entschluss fassen und irgendwelche Pläne machen kannst, ist der Krieg plötzlich zu Ende, und du bleibst in New York.
Dennoch spürst Du das starke Bedürfnis, das Land zu verlassen, irgendwo anders zu sein als dort, wo du jetzt bist, und daher hast du bereits den Dean aufgesucht und ihm gesagt, du möchtest ein Jahr lang im Ausland studieren (nach einer schwierigen Debatte mit deinem Vater, der schließlich widerwillig zugestimmt hat). Du hast dich für Paris entschieden. Dorthin gehst du nicht nur, weil dir Paris, wo du zum ersten Mal vor zwei Jahren warst, besonders am Herzen liegt, sondern auch, weil du dein Französische vervollkommnen willst, das zwar schon ganz gut ist, aber noch besser sein könnte. Du bist dir bewusst, dass Born in Paris lebt, zumindest nimmst du das an, kommst aber nach reiflicher Überlegung zu dem Ergebnis, dass die Chance, ihm dort zufällig zu begegnen, überaus klein ist. Und falls das Unwahrscheinliche doch eintreten sollte, fühlst du dich gewappnet, den Umständen entsprechend darauf zu reagieren. Was soll so schwer daran sein, sich einfach abzuwenden und an ihm vorbeizugehen?
(Paul Auster: Unsichtbar, aus dem Englischen von Werner Schmitz, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag Juli 2010, S.99 f.)

Schauplatz des kompletten zweiten Teils, überschrieben mit „Sommer“, bleibt aber New York. Ausführlich wird dabei auf das inzestiöse Verhältnis zwischen diesem „Du“ und seiner Schwester eingegangen, wobei zwar sehr genau beobachtet wird, dies aber nirgends ins Pornographische abgleitet.

Erst im dritten Teil, überschrieben mit „Herbst“ und nun tatsächlich in der dritten Person verfasst, reist der Hauptprotagonist nach Paris, wo es zu einem erneuten Zusammentreffen mit dem reichen Mann des ersten Teils, sowie dessen ehemaliger Lebenspartnerin, seiner Zukünftigen und deren Tochter kommt, deren Vertrauen der  Hauptprotagonist sich zu erschleichen bemüht, um…

Was der Hauptprotagonist vorhat und ob dieses gelingt,  soll an dieser Stelle aber besser doch nicht verraten sein, ebenso wie die Gründe für die Veröffentlichung des Buches durch jemand anderes und andere Zusammenhänge, die erst gegen Ende aufgedeckt werden,
denn das Buch ist wert, selbst gelesen zu werden.


9. Oktober 2007

Paul Auster: Mr Vertigo

Filed under: Paul Auster — Lectrix @ 4:58

Eine in mehrfacher Hinsicht fantastische Geschichte.

Paul Auster lässt Walt sein Leben in der Retrospektive erzählen, von dem Moment an, als Master Yehuda ihn, einen 12jährigen heruntergekommenen Jungen, ansprach und ihn dazu überredete mit ihm zu kommen, um von ihm das Fliegen zu lernen, bis hin zu der Niederschrift dieses Berichts:

I’ve worked on it every day since last August, pushing along from word to word in my clumsy old man’s script. I started out with a school composition book from the five-and-ten, one of those hardbound things with a black-and-white marble cover and wide blue lines, and by now I’ve filled nearly thirteen of them, about one a month for every month I’ve been working. I have’nt shown a single word to anyone, and now that I’m at the end, I’m beginning to think it should stay that way – at least while I’m still kicking. Every word in these thirteen books is true, but I’d bet both my elbows there aren’t a hell of a lot of people who’d swallow that. It’s not that I’m afraid of being called a liar, but I’m too old now to waste my time defending myself against idiots. I ran into enough doubting Thomases when Master Yehudi and I were on the road, and I have other fish to fry now, other things to keep me busy after this book is done.
(Paul Auster: Mr Vertigo, Faber and Faber, London 1995, S. 275)

Zu Recht befürchtet Walt, dass es Zweifler geben könnte. Selbstverständlich fällt es schwer, den Bericht vom Fliegen (und der Methode des Erlernens) für bare Münze zu nehmen. Aber darum geht es eigentlich ja auch nicht.

Denn bei diesem Buch handelt es sich um eine Art Roadmovie. Und wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen, erkennt man, was es wirklich ist:

  • eine wundervolle Hommage an das Leben (und wahre Freundschaft),
  • eine interessante Parabel zum Preis des Erfolgs
  • und eine Geschichte, die deutlich macht, was wirklich wichtig ist.

Da das Buch zudem in einem leicht lesbaren Stil verfasst ist,
kann ich die Lektüre auch in der Originalsprache nur empfehlen.


22. Juni 2006

Paul Auster: Nacht des Orakels

Filed under: Paul Auster — Lectrix @ 10:10

Dieses Buch las ich in den letzten Tagen zum zweiten Mal.

Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob ich es mag.
Aber es fasziniert mich.
Ich ließ mich wieder von der Verschlungenheit der verschiedenen Ebenen gefangen nehmen, von den durch die Komposition der Ereignisse aufgeworfenen Fragen anstecken, von der Stringenz mitreißen, von der möglicherweise wirkenden Magie verzaubern.

Kann man diesen Roman beschreiben?

Man kann damit beginnen, dass es einen Ich-Erzähler gibt. Im ersten Moment dachte ich, dass dieser recht zeitnah berichten würde, aber später erfährt man, dass seit dem »Samstagmorgen im September – den ich lieber den fraglichen Morgen nenne« zwanzig Jahre vergingen. Dadurch hat man bereits zwei Ebenen: Ein Ich-Erzähler, der in Kenntnis dessen, was sich daraus später ergeben wird, von seinen damaligen Ansichten, Beweggründen und Handlungen nicht nur berichtet, sondern das Bedürfnis zu haben scheint, diese zu erklären.

An diesem »Samstagmorgen im September – den ich lieber den fraglichen Morgen nenne« erwarb der Ich-Erzähler, der seit geraumer Zeit unter einer Schreibhemmung litt, in der kleinen Schreibwarenhandlung eines Chinesen ein blau eingebundenes Notizbuch aus Portugal. Als er sich mit diesem Notizbuch, das erste Mal seit neun Monaten, an den Schreibtisch in seinem winzigen Arbeitszimmer setzt, beginnt sogleich eine Geschichte aus ihm herauszuströmen. Womit sich eine dritte Ebene eröffnet, die Ebene dessen, was in dieses blaue Notizbuch hineingeschrieben wird.

Eine weitere Ebene entsteht dadurch, dass die erste Geschichte in dem blauen Notizbuch ihrerseits ein Manuskript enthält. Der Titel dieses Manuskriptes lautet »Nacht des Orakels«. Es handelt sich um einen philosophischen Roman, dessen Inhalt nur kurz umrissen wird. Die Hauptperson ist ein Leutnant, der in Folge einer Kriegsverletzung zwar einerseits erblindet ist, andererseits aber von Vorhersehungen heimgesucht wird. Am Vorabend seiner Hochzeit die Vision empfangend, dass seine Braut sich noch vor Jahresende mit einem anderen Mann einlassen wird, nimmt er sich das Leben.

Wären die Ebenen nur als Rahmenhandlungen ineinander verschachtelt, wäre daran nichts außergewöhnlich. Paul Auster verschachtelt sie aber nicht nur. Er lässt den Eindruck entstehen, dass sie sich bedingen und beeinflussen. Dadurch hat das Buch eine recht komplexe Struktur. Aber obwohl es eine Vielzahl von Ebenen gibt und immer wieder zwischen den Ebenen gewechselt wird, bleibt es übersichtlich, denn Paul Auster beherrscht die Kunst, seine Leser durch sein Werk zu führen, und beweist dies in diesem Roman.

Das verknüpfende Element aller Ebenen ist der Ich-Erzähler. Es kann nur das berichtet werden, was ihm widerfährt. Nur sein Blickwinkel kann berücksichtigt werden. Er lässt einen aber auch Einblick nehmen in die Beweggründe, die ihn dazu bringen, gewisse Dinge zu tun bzw. zu schreiben.

Am Anfang ist das einfach, er kann problemlos erläuternd einschieben, dass er das Aussehen seiner Frau als Vorbild für das Erscheinungsbild der Frau wählt, in die sich der Protgonist der ersten Geschichte in einem Verlagsbüro auf den ersten Blick verliebt, da er seine eigene Frau in einem Verlagsbüro kennenlernte und es damals ebenfalls Liebe auf den ersten Blick war.

Auch die Wahl des Themas der ersten Geschichte, die der Ich-Erzähler in das blaue Notizbuch schreibt, kann er erklären. Bevor er mit dem Schreiben begann, berichtet der Ich-Erzähler, dachte er nämlich an ein vierzehn Tage zuvor geführtes Gespräch mit einem älteren Freund. In dem Gespräch ging es um eine Anekdote im »Malteser Falken« von Dashiell Hammett, die den perfekten Ausgangspunkt für eine sehr gute Geschichte darstellen würde. Es handelt sich um die Erzählung von dem Mann, der – knapp einem Unfalltod entronnen – erkennt, dass sein Leben nicht so läuft, wie es laufen könnte, aus seinem bisherigen Leben verschwindet und unter einer neuen Identität ein neues Leben beginnt. Im blauen Notizbuch soll diese Vorlage zu einem Roman ausgebaut werden.

Es beginnt auch recht vielversprechend. Die Geschichte ist fesselnd, etwas abgedreht, zum Teil verrückt, aber zunehmend spannend. Nach und nach wird der Hauptprotagonist in eine immer ausweglosere Situation hineingeführt, bis endlich auch der Ich-Erzähler, der Verfasser der Geschichte, einräumen muss: »Vielleicht gab es einen Ausweg, aber fürs Erste sah ich keinen. Das Einzige, was ich an diesem Morgen sehen konnte, war mein unglücklicher kleiner Held, der im Dunkel seines unterirdischen Zimmers auf Rettung wartete.«

Aber warum hat sich der Autor dabei so verrannt? Hatte er sich überhaupt verrannt oder sperrte er die Hauptperson – wenn vielleicht auch unbewusst – als Reaktion auf aktuelle Ereignisse und daraus erwachsene Befürchtungen absichtlich ein?

In dieser Richtung Beeinflussungen zu vermuten ist üblich. Ein Autor erhält Inspirationen aus seiner Umwelt und lässt dieses in sein Schreiben einfließen. Er verarbeitet die eigenen Erfahrungen in mehr oder weniger verschlüsselter Weise in seinem Werk.

Aber ist das wirklich alles?
Immer stärker wird der Eindruck, dass das Schreiben in dieses blaue Notizbuch mehr bedeutet…


Powered by WordPress