Paul Auster – Unsichtbar
In der Stadtbibliothek Osnabrück werden neuangeschaffte Bücher, bei denen ein Ausleihinteresse vieler Nutzer erwartet wird, zunächst im vorderen Bereich ausgestellt und ohne Verlängerungsmöglichkeit nur für einen verkürzten Zeitraum gegen eine kleine Gebühr verliehen.
Normalerweise entleihe ich so gut wie nie eines der Bücher mit diesem Sonderstatus, da man sie bereits einige Zeit später ja unter den üblichen Bedingungen entleihen kann.
Doch als ich das neue Buch von Paul Auster darunter entdeckte, dessen Übersetzung ins Deutsche soeben erschien, nahm ich diese Möglichkeit der frühzeitigen Ausleihe doch in Anspruch.
Mit dem Anfang dieses Buches tat ich mich dann überraschend schwer. Nicht das es schlecht geschrieben wäre. Nein, es ist schon sehr gut beschrieben, wie Leute miteinander ins Gespräch kommen, die sich auf einer Party langweilen. Aber eigentlich schien mir dies belanglos. Falls Paul Auster diese Belanglosigkeit einfangen wollte, gelang ihm dies glänzend. Und auch, als dem Ich-Erzähler später von dem auf diese Weise kennengelernten Mann, Geld zur Gründung einer Literaturzeitschrift angeboten wurde, riss mich nicht mit. Auch wenn sich allmählich der unangenehme Charakter dieses Mannes anzudeuten begann, der offensichtlich gewohnt war, dass stets alles so lief, wie er es wünschte. Selbst die sich anschließend ergebende merkwürdige Dreierkonstellation zwischen dem Ich-Erzähler, dem Mann und dessen Lebenspartnerin nahm ich eher zur Kenntnis, wobei der Drang des Mannes Abhängigkeiten zu schaffen und auszunutzen sowie sein Jähzorn nun offensichtlich werden. Inhaltlich interessant wurde es für mich erst, als dieser Mann einen Mord beging – und damit den Ich-Erzähler, der Zeuge davon wurde, in moralische Konflikte brachte, die glaubwürdig und absolut nachvollziehbar beschrieben werden. Da war ich froh, dass ich das Buch vorher nicht weggelegt hatte.
Stilistisch faszinierend wird es für mich dann, als nach dem bis jetzt vorgestellten ersten Teil des Buches, überschrieben mit „Frühling“, ein neuer Ich-Erzähler übernimmt, der knapp erläutert, wie er an den Text des ersten Ich-Erzählers gekommen ist, den er in sein Buch aufgenommen hat, und wie er dem ersten Ich-Erzähler, der in einem Brief darüber klagte, dass er beim Verfassen des Berichts über die weiteren Geschehnisse ins Stocken geraten sei, hilft, indem er ihm den einfachen Rat erteilt, nicht mehr als der Ich-Erzähler zu fungieren, sondern die Perspektive zu wechseln. Woraufhin der zweite Teil, überschrieben mit „Sommer“, überraschend das Personalpronomen „Du“ verwendet. Dieser Teil beginnt wie folgt:
Aus Frühling wird Sommer. Für Dich ist es der Sommer nach dem Frühjahr des Rudolf Born [= der reiche Mann aus dem ersten Teil], für den Rest der Welt aber ist es der Sommer des Sechstagekriegs, der Sommer der Rassenunruhen in mehr als hundert amerikanischen Städten, der Summer of Love. Du bist zwanzig Jahre alt und hast soeben dein zweites Jahr am College hinter dich gebracht. Als der Krieg im Nahen Osten ausbricht, überlegst du, ob du in die israelische Armee eintreten und Soldat werden sollst, dabei bist du überzeugter Pazifist und hast niemals das geringste Interesse am Zionismus bekundet, doch bevor du einen Entschluss fassen und irgendwelche Pläne machen kannst, ist der Krieg plötzlich zu Ende, und du bleibst in New York.
Dennoch spürst Du das starke Bedürfnis, das Land zu verlassen, irgendwo anders zu sein als dort, wo du jetzt bist, und daher hast du bereits den Dean aufgesucht und ihm gesagt, du möchtest ein Jahr lang im Ausland studieren (nach einer schwierigen Debatte mit deinem Vater, der schließlich widerwillig zugestimmt hat). Du hast dich für Paris entschieden. Dorthin gehst du nicht nur, weil dir Paris, wo du zum ersten Mal vor zwei Jahren warst, besonders am Herzen liegt, sondern auch, weil du dein Französische vervollkommnen willst, das zwar schon ganz gut ist, aber noch besser sein könnte. Du bist dir bewusst, dass Born in Paris lebt, zumindest nimmst du das an, kommst aber nach reiflicher Überlegung zu dem Ergebnis, dass die Chance, ihm dort zufällig zu begegnen, überaus klein ist. Und falls das Unwahrscheinliche doch eintreten sollte, fühlst du dich gewappnet, den Umständen entsprechend darauf zu reagieren. Was soll so schwer daran sein, sich einfach abzuwenden und an ihm vorbeizugehen?
(Paul Auster: Unsichtbar, aus dem Englischen von Werner Schmitz, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag Juli 2010, S.99 f.)
Schauplatz des kompletten zweiten Teils, überschrieben mit „Sommer“, bleibt aber New York. Ausführlich wird dabei auf das inzestiöse Verhältnis zwischen diesem „Du“ und seiner Schwester eingegangen, wobei zwar sehr genau beobachtet wird, dies aber nirgends ins Pornographische abgleitet.
Erst im dritten Teil, überschrieben mit „Herbst“ und nun tatsächlich in der dritten Person verfasst, reist der Hauptprotagonist nach Paris, wo es zu einem erneuten Zusammentreffen mit dem reichen Mann des ersten Teils, sowie dessen ehemaliger Lebenspartnerin, seiner Zukünftigen und deren Tochter kommt, deren Vertrauen der Hauptprotagonist sich zu erschleichen bemüht, um…
Was der Hauptprotagonist vorhat und ob dieses gelingt, soll an dieser Stelle aber besser doch nicht verraten sein, ebenso wie die Gründe für die Veröffentlichung des Buches durch jemand anderes und andere Zusammenhänge, die erst gegen Ende aufgedeckt werden,
denn das Buch ist wert, selbst gelesen zu werden.