Daniel Wallace: Big Fish
„Nach diesem Roman entstand der grandiose Kinofilm von Tim Burton!“ heißt es in der Beschreibung auf der Rückseite der Knaur-Taschenbuchausgabe dieses Romans.
Wir mögen den Film „Big Fish“ sehr gerne.
In der Hoffnung mehr Hintergrundinformationen und mehr Details zu den phantasievollen Geschichten dieses warmherzigen Films zu finden, entschieden wir uns zur Lektüre und wurden gleichermaßen enttäuscht wie positiv überrascht.
Enttäuscht, weil das Buch in vielerlei Hinsicht ganz anders ist als der Film.
Positiv überrascht, weil das, was anders ist, gut so ist, wie es ist.
Es fängt schon damit an, dass es sich bei diesem Buch eigentlich nicht um einen wirklichen Roman handelt. Eigentlich ist es eher eine mehr oder weniger chronologische Aneinanderreihung von einzelnen mehr oder weniger legendenhaften/phantastischen/surrealen Erzählungen, in denen ein Sohn Geschichten vom Leben seines Vaters in einfacher, bildreicher Sprache voller Übertreibungen wiedergibt.
So beginnt das Kapitel „Der Tag, an dem er geboren wurde“ folgendermaßen:
Er wurde in dem trockensten Sommer seit vierzig Jahren geboren. Die Sonne dörrte den feinen roten Lehm von Alabama zu körnigem Staub, und meilenweit gab es kein Wasser. Auch Nahrung war knapp. Kein Mais in jenem Sommer, keine Tomaten, nicht einmal Kürbisse, alles verdorrte unter dem dunstigen weißen Himmel. Alles starb, so schien es: zuerst Hühner, dann Katzen, dann Schweine und dann Hunde. Landeten im Eintopf, alle miteinander, mitsamt Knochen und allem.
Ein Mann wurde verrückt, aß Steine und starb. Zehn Mann waren vonnöten, um ihn zu seinem Grab zu tragen, so schwer war er, und noch einmal zehn, um es auszuheben, so trocken war die Erde.
(Daniel Wallace: Big Fish, München: Knaur 2004, S. 17)
Zwischen diesen Erzählungen sind die Kapitel „Meines Vaters Tod: Die Erste“, „Meines Vaters Tod: Die Zweite“, „Meines Vaters Tod: Die Dritte“ eingebettet, bis es nach „Wie es endet“ mit den Kapiteln „Meines Vaters Tod: Die Vierte“ und „Big Fish – Der große Fisch“ endet. Auch in diesen Kapiteln wird keine wirklich fortlaufende Geschichte erzählt. Viel mehr handelt es sich – so scheint es mir zumindest – um verschiedene Alternativen / Varianten, wie der letzte Tag des Vaters aussehen könnte, das letzte Gespräch des Sohnes mit seinem Vater verlaufen könnte.
Dieses lässt sich vielleicht an einem Beispiel besser vermitteln:
Auf die Frage, ob er an den Himmel glaube, reagiert der Vater – wie offenbar stets, wenn ernsthafte oder heikle Fragen anstehen – mit dem Erzählen eines Witzes:
»Was für eine Frage«, sagt er mit voller Stimme. »Ich weiß nicht, ob ich es wirklich sagen kann, so oder so. Aber das erinnert mich – unterbrich mich, wenn du den schon kennst – an den Tag, als Jesus für Petrus das Himmelstor bewachte. Also, Jesus löst ihn eines Tages ab, als ein Mann den Weg zum Himmel entlang geschlurft kommt.
›Was hast du getan, um ins Himmelreich einzugehen?‹ fragt Jesus ihn.
Und der Mann sagt: ›Hm, eigentlich nicht viel. Ich bin nur ein armer Zimmermann und habe ein ruhiges Leben geführt. Das einzig Bemerkenswerte an meinem Leben war mein Sohn.‹
›Dein Sohn?‹ fragt Jesus interessiert.
›Ja, er war ein fabelhafter Sohn‹, sagt der Mann. ›Er hatte eine äußerst ungewöhnliche Geburt und machte später eine große Verwandlung durch. Er wurde auch in der ganzen Welt wohlbekannt und wird heute noch von vielen geliebt.‹
Christus sieht den Mann an, umarmt ihn innig und sagt: ›Vater, Vater!‹
Und der alte Mann umarmt ihn auch und sagt: ›Pinocchio?‹«
(Daniel Wallace: Big Fish, München: Knaur 2004, S. 93 f.)
Da haben wir gelacht. Denn auch wenn der Vater, die Frage seines Sohnes umging… der Witz ist hervorragend.
Einige Seiten später wurde ich dann jedoch durch den Fortgang des Gespräches aus der Fassung gebracht:
»Ich war ein guter Dad«, sagt er.
Eine nicht unanfechtbare Behauptung, die er in den Raum stellt, als warte er auf meinen Beifall. Ich betrachte ihn, betrachte sie.
»Du bist ein guter Dad«, sage ich.
»Danke«, sagt er, und seine Lider flattern ein bißchen, als hätte er gehört, was er hören wollte. Dies ist mit letzten Worten gemeint: Sie sind Schlüssel, um das Leben nach dem Tod aufzuschließen. Es sind nicht letzte Worte, sondern Schlüsselworte, und sobald sie gesprochen sind, kann man gehen.
»So. Wie steht es heute, Dad?«
»Wie steht was?« fragt er verträumt.
»Das mit Gott und Himmel und allem. Was denkst du: ja oder nein? Vielleicht fühlst du morgen anders, das verstehe ich. Aber jetzt, was fühlst du in diesm Moment? Ich möchte es wirklich wissen, Dad. Dad?« sage ich, denn er scheint sich von mir forttreiben zu lassen in einen tiefen Schlaf. »Dad?« sage ich.
Und er schlägt die Augen auf und sieht mich an, mit seinen blaßblauen Augen, die plötzlich erfüllt sind von Dringlichkeit, und er sagt, er sagt zu mir, er sagt zu seinem Sohn, der an seinem Bett sitzt und auf seinen Tod wartet, er sagt: »Pinocchio?«
(Daniel Wallace: Big Fish, München: Knaur 2004, S. 97)
Auch wenn das Buch mich zum Weinen brachte.
Auch wenn einige Kapitel des Buches bitterböse sind.
Auch wenn der Sohn in den Kapiteln, die sich den letzten Tagen des Vaters widmen, desöfteren vom Verhalten seines Vaters vor den Kopf geschlagen wird.
Dieses Buch ist ein positives Buch.
Dieses Buch schafft es, die Liebe eines Sohnes zu einem Vater zu vermitteln, der in seinem Leben sicherlich vieles falsch gemacht hat, viel zu wenig da war, auch kurz vor seinem Tod noch nicht aus seiner Haut heraus kann, die für ihn typischen Verhaltensweisen / Ausflüchte bis zum Ende weiterhin zeigt.
Und zwar liebt er ihn nicht, weil er all dieses ausblendet, sondern er liebt ihn trotzdem und – vielleicht – sogar ein bisschen deswegen.
Denn der Sohn schafft es schließlich, sich auf die Welt seines Vaters einzulassen und mittels der Geschichten, die er von seinem Vater und über seinen Vater hörte und die er in diesem Buch aufgeschrieben hat, macht eigentlich er erst aus seinem Vater die Legende / den Mythos:
Und diese Bilder – das Jetzt und Einst meines Vaters – liefen zusammen, und in diesem Moment verwandelte er sich in ein unheimliches Wesen, wild, gleichzeitig jung und alt, sterbend und neugeboren.
Mein Vater wurde ein Mythos.
(Daniel Wallace: Big Fish, München: Knaur 2004, S. 14)