Lectrix – Notizen einer Leserin

23. Juni 2007

Amelie Nothomb: Der Professor

Filed under: Amelie Nothomb — Lectrix @ 9:02

Die erste Hälfte dieses Romans gefiel mir sehr gut.

Gelungen ist die Geschichte eines in die Jahre gekommenen Ehepaars, das sich für den friedlichen Lebensabend ein Häuschen auf dem Land geleistet hat, aber durch die täglichen Besuche des unmöglichen Nachbarn – er kommt jeden Tag Punkt 16 Uhr und geht erst um Punkt 18 Uhr wieder – immer mehr gestört fühlt, den abzuweisen Ihnen aber ihre Höflichkeit verbietet. Die langjährige liebevolle Beziehung zwischen dem ehemaligen Lateinlehrer und seiner Frau, die sowohl in ihrem alltäglichen Umgang miteinander als auch in seinen Erinnerungen zum Ausdruck kommt, ist herrlich romantisch. Die Gedankengänge und Befürchtungen dieses gebildeten und wohlerzogenen Mannes sind stets nachvollziehbar. Die zunehmende, eigentlich eher irrationale Bedrängnis ist jedoch zugleich hervorragend eingefangen.

Man kann sich nicht vorstellen, wie langsam die Tage verstreichen. Alle Welt behauptet, die Zeit verginge schnell. Es stimmt nicht.
In diesem Januar stimmte es weniger denn je. Genauer gesagt, jede Periode des Tageslaufs hatte ihr eigenes Tempo: Die Abende lang und geruhsam, die Morgen kurz und hoffnungsvoll. Zu Beginn des Nachmittags beschleunigte eine unausgesprochene Angst den Minutentakt zu einem Wirbel. Und dann, um vier Uhr, blieb die Zeit stehen.
Es war schlecht eingeteilt: Der schmale Streifen Zeit, der Monsieur Bernadin zufiel, wurde schließlich zum Haupteil unseres Tagesablaufs. Wir wagten es uns nicht einzugestehen, aber wir waren sicher, in diesem Punkt gleicher Meinung.
Ich hatte die Aufgabe des heldenmütigen Widerstands übernommen. Das unser Gast uns belästigte und gar nichts sagte – war es da nicht logisch, daß ich ihn mit einem Schwall pausenlosen und nichtssagenden Geredes überschüttete? Pausenlos, damit ich mich nicht langweilte, und nichtssagend, damit ich ihn langweilte.
(Amélie Nothomb: Der Professor, übersetzt von Wolfgang Krege, Zürich: Diogenes1996, S. 76)

Hätte die Autorin es einfach dabei belassen – mit einem offenen Ende, oder mit einer Kapitulation, die im Wegzug des älteren Ehepaars Ausdruck hätte finden können, oder meinetwegen auch in einer Eskalation, die im Mord am Nachbarn gipfelt -, dann würde ich dieses Buch nun in den höchsten Tönen loben und anpreisen, denn bis S. 82 fand ich es wirklich gut.

Aber auf S. 82 lässt Amelie Nothomb die Frau des Nachbarn auftauchen – und mit dieser überspannt sie (für mich) den Bogen, Das wäre nicht nötig gewesen und hat mir den Spaß an diesem Buch genommen.

Ich habe es zwar noch zu Ende gelesen, aber dieses neue Problem und die in meinen Augen zweifelhafte Lösung, die am Ende gefunden wird, konnten mich nicht überzeugen.

Für mich stellt dieser Roman somit eine verpasste Chance dar.


17. Juni 2007

Iain Pears: Das Portrait

Filed under: Iain Pears — Lectrix @ 21:09

Weil mir „Das Urteil am Kreuzweg“ und „Scipios Traum“ so gut gefielen, suchte ich in der Bibliothek nach einem weiteren Buch von Iain Pears und stieß dabei auf „Das Portrait“. Während „Das Urteil am Kreuzweg“ und „Scipios Traum“ sehr umfangreiche Werke mit über 1000 Seiten sind, umfasst „Das Portrait“ noch nicht einmal 200. Diese knapp 200 Seiten haben es jedoch in sich:

Der ganze Text besteht aus einem einzigen Monolog, den ein Künstler seinem Modell hält, während er es porträtiert. Bereits bei den ersten Worten merkt man, dass das Verhältnis zwischen dem Künstler und dem Modell äußerst angespannt ist. Nach und nach erfährt man, dass es sich bei dem Modell um einen angesehenen Kunstkritiker handelt und dass sie sich einst sehr nahe standen. Immer deutlicher spürt man jedoch auch, welche Distanz nun besteht und wie viel Hass der Künstler empfindet. Im Verlauf des Monologs erzählt der Künstler nach und nach seine Lebensgeschichte, lässt sich über das Verhältnis zwischen Kunst, Kritik und Käufern aus und erklärt dabei seinem Modell die Zusammenhänge, die zu einigen tragischen Geschehnissen vor ein paar Jahren, seinem Rückzug aus dem Kunstgewerbe und zu seinen heutigen Gefühlen führten.

Iain Pears gelingt es meisterhaft, die Spannung bis zuletzt aufrecht zu erhalten, das ganz allmähliche Kippen des Machtverhältnisses zwischen dem Künstler und dem Kunstkritiker – bzw. nun Modell – zu verfolgen und die Rache des Künstlers vorzubereiten.

Ganz nebenbei führt Iain Pears den Leser zudem in die Kunst der Jahrhundertwende ein, bietet einen literarischen Einblick in die malerischen Umbrüche dieser Zeit und umrandet das Ganze mit einer Beschreibung der damaligen Gesellschaft und ihrer Gepflogenheiten.

Dieser Roman hat mir sehr gut gefallen.
Ich kann die Lektüre dieses Buches nur empfehlen.


10. Juni 2007

Alessandro Baricco: Novecento. Die Legende vom Ozeanpianisten

Filed under: Alessandro Baricco — Lectrix @ 21:07

Als ich einer Bekannten neulich von „Seide“ vorschwärmte, beschloss sie, diese Geschichte ebenfalls lesen zu wollen, denn ihr gefiel vom selben Autoren „Novecento“ ausgesprochen gut, welches sie mir im Gegenzug empfahl und das ich daraufhin auf die Liste meiner aus der Bibliothek zu entleihenden Bücher aufnahm.

Bei nächster Gelegenheit entlieh ich dieses kleine Büchlein, welches in relativ großer Schrift gerade mal 69 Seiten umfasst und laut Einleitung des Autoren etwas enthält, das zwischen einem „richtigen Bühnenstück und einer laut zu lesenden Erzählung schwankt“ – und darum begann ich noch am selben Abend es meinem Lebenspartner vorzulesen.

Und wiederum schaffte es Alessandro Baricco uns direkt in seinen Bann zu ziehen:

Das war er wirklich, der Größte. Wir spielten Musik, aber er war was anderes. Er spielte… Das gab’s noch nicht, bevor er es spielte, okay?, das gab’s nirgendwo. Und wenn er vom Klavier aufstand, war es wieder weg… und es war weg für immer. Danny Boodmann T.D. Lemon Novecento. Das letzte Mal, als ich ihn sah, saß er auf einer Bombe. Im Ernst. Er saß auf einer Riesenladung Dynamit. Eine lange Geschichte… Er sagte: »Du bist nicht wirklich aufgeschmissen, solange du noch eine gute Geschichte hast und jemandem, dem du sie erzählen kannst.« Er hatte sie… eine gute Geschichte. Er war seine gute Geschichte. Eine verrückte, wenn man es recht bedenkt, aber eine schöne… Und damals, als er auf diesem ganzen Dynamit saß, hat er sie mir geschenkt. Weil ich sein bester Freund war, ja. Aber dann habe ich einigen Mist gebaut, und selbst wenn man mich auf den Kopf stellt, kommt nichts mehr aus meinen Taschen, sogar die Trompete habe ich verkauft, alles, aber… diese Geschichte, nein… die habe ich nicht verloren, sie ist noch da, klar und unerklärlich wie nur die Musik war, wenn mitten auf dem Ozean das Zauberklavier von Danny Boodmann T.D. Lemon Novecento sie spielte.
(Alessandro Baricco: Novecento. Die Legende vom Ozeanpianisten, Piper: München 1999, S. 19 f.)


Powered by WordPress