Amelie Nothomb: Der Professor
Die erste Hälfte dieses Romans gefiel mir sehr gut.
Gelungen ist die Geschichte eines in die Jahre gekommenen Ehepaars, das sich für den friedlichen Lebensabend ein Häuschen auf dem Land geleistet hat, aber durch die täglichen Besuche des unmöglichen Nachbarn – er kommt jeden Tag Punkt 16 Uhr und geht erst um Punkt 18 Uhr wieder – immer mehr gestört fühlt, den abzuweisen Ihnen aber ihre Höflichkeit verbietet. Die langjährige liebevolle Beziehung zwischen dem ehemaligen Lateinlehrer und seiner Frau, die sowohl in ihrem alltäglichen Umgang miteinander als auch in seinen Erinnerungen zum Ausdruck kommt, ist herrlich romantisch. Die Gedankengänge und Befürchtungen dieses gebildeten und wohlerzogenen Mannes sind stets nachvollziehbar. Die zunehmende, eigentlich eher irrationale Bedrängnis ist jedoch zugleich hervorragend eingefangen.
Man kann sich nicht vorstellen, wie langsam die Tage verstreichen. Alle Welt behauptet, die Zeit verginge schnell. Es stimmt nicht.
In diesem Januar stimmte es weniger denn je. Genauer gesagt, jede Periode des Tageslaufs hatte ihr eigenes Tempo: Die Abende lang und geruhsam, die Morgen kurz und hoffnungsvoll. Zu Beginn des Nachmittags beschleunigte eine unausgesprochene Angst den Minutentakt zu einem Wirbel. Und dann, um vier Uhr, blieb die Zeit stehen.
Es war schlecht eingeteilt: Der schmale Streifen Zeit, der Monsieur Bernadin zufiel, wurde schließlich zum Haupteil unseres Tagesablaufs. Wir wagten es uns nicht einzugestehen, aber wir waren sicher, in diesem Punkt gleicher Meinung.
Ich hatte die Aufgabe des heldenmütigen Widerstands übernommen. Das unser Gast uns belästigte und gar nichts sagte – war es da nicht logisch, daß ich ihn mit einem Schwall pausenlosen und nichtssagenden Geredes überschüttete? Pausenlos, damit ich mich nicht langweilte, und nichtssagend, damit ich ihn langweilte.
(Amélie Nothomb: Der Professor, übersetzt von Wolfgang Krege, Zürich: Diogenes1996, S. 76)
Hätte die Autorin es einfach dabei belassen – mit einem offenen Ende, oder mit einer Kapitulation, die im Wegzug des älteren Ehepaars Ausdruck hätte finden können, oder meinetwegen auch in einer Eskalation, die im Mord am Nachbarn gipfelt -, dann würde ich dieses Buch nun in den höchsten Tönen loben und anpreisen, denn bis S. 82 fand ich es wirklich gut.
Aber auf S. 82 lässt Amelie Nothomb die Frau des Nachbarn auftauchen – und mit dieser überspannt sie (für mich) den Bogen, Das wäre nicht nötig gewesen und hat mir den Spaß an diesem Buch genommen.
Ich habe es zwar noch zu Ende gelesen, aber dieses neue Problem und die in meinen Augen zweifelhafte Lösung, die am Ende gefunden wird, konnten mich nicht überzeugen.
Für mich stellt dieser Roman somit eine verpasste Chance dar.