Lectrix – Notizen einer Leserin

12. Januar 2007

Gerd Scherm: Der Nomadengott

Filed under: Gerd Scherm — Lectrix @ 18:00

Wir befinden uns im Jahr 1500 vor unserer Zeitrechnung im ägyptischen Theben im dritten Jahr der Regentschaft des Pharaos Ahmose, der allenfalls davon träumt, Begründer des Neuen Reiches und der 18. Dynastie zu werden.
Zum Leidwesen aller an dieser Geschichte Beteiligten ist Theben an diesem Tag noch nicht das große Theben, daß es schon bald sein wird. Fast alle prachtvollen Tempel und Paläste existieren nicht einmal in der Fantasie noch nicht geborener Pharaonen. Schade, aber die Geschichte beginnt trotzdem jetzt im Zentrum des südlichen Oberägypten, wo in erster Linie der Gott Amun das Sagen hat, gefolgt von weiteren Göttern und dem Pharao Ahmose. Wobei der Letztere sagt, was die zu tun haben, die keine Götter sind.
(Gerd Scherm: Der Nomadengott, München: Heyne 2006, S. 13)

So beginnt die gelungene Parodie, die ich in den letzten Tagen meinem Lebenspartner vorlas und die uns beiden viel Vergnügen bereitete, denn Gerd Scherm liefert in diesem Buch eine äußerst humorvolle Parallelgeschichte zu dem aus der Bibel bekannten Exodus der Israeliten aus Ägypten, mit durchaus überraschenden Erklärungen einiger Phänomene…

GON, den zwar kleinen, aber dafür umso pragmatischer denkenden Gott ohne Namen, muss man als Leser im Übrigen einfach gern haben. Um einen ersten Eindruck von ihm zu vermitteln, als Beispiel ein Ausschnitt aus der Szene zur Aufstellung der Heiligen Gesetze:

Seshmosis: »Willst du mir jetzt nicht Gesetze oder so was übergeben? Auf Tontafeln graviert? Oder schön in Gold gearbeitet? Oder von deinem Heiligen Käfer auf Papyrus geschrieben?«
GON: »Warum Ton? Wer sollte die Schrift hineinritzen? Wieso Gold? Wozu diese Verschwendung? Und dann die Diebstahlgefahr! Und wieso sollte ich meinen Käfer arbeiten lassen? Wozu? Du bist so ziemlich der Einzige in deinem Stamm, der lesen und schreiben kann. Was denkst du, warum ich mir einen Schreiber ausgesucht habe?«
Seshmosis: »Ach so, du diktierst, und ich schreibe? Was soll ich denn schreiben? […]«
GON: »Ich glaube, du hast etwas Bestimmtes im Kopf, was ICH sagen soll.«
Seshmosis: »Nun, ich habe da von einem anderen Stamm gehört, der im Norden im Delta lebt. Ihre Anführer sind die Brüder Aaron und Moses, und die wollen so eine Art Hyksos-Gesetze verbreiten. Sozusagen Stammesidentität durch gemeinsame Glaubensregeln. Man sagt, sie bekommen die Anregungen von einem Gott namens Schasu-YHW, der ein Sturm- und Kriegsgott der Midianiter ist. […] Und da wir auch Hyksos sind, dachte ich mir, wir könnten vielleicht von den nördlichen Stämmen etwas übernehmen.«
GON: »Ich bin Anregungen gegenüber nie abgeneigt. Besser gut geklaut als schlecht erfunden. Was sagt denn der Kollege so?«
(Gerd Scherm: Der Nomadengott, München: Heyne 2006, S. 142-144)

Welche der zehn Gebote GON mit welchen Einschränkungen zu übernehmen bereit ist , welche er warum ablehnt, und wie er seinem Stamm auf dessen Flucht beisteht, sollte jedoch jeder, dem die bisherigen Zitate gefielen, selbst lesen.

Die Lektüre dieses Buch ist auf jeden Fall ein herrlich kurzweiliger Zeitvertreib.


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