Lectrix – Notizen einer Leserin

17. März 2007

Orhan Pamuk: Rot ist mein Name

Filed under: Orhan Pamuk — Lectrix @ 15:00

Einen Roman von Orhan Pamuk zu lesen, beschloss ich, als ihm der Literaturnobelpreis verliehen wurde. Dass es der Roman „Rot ist mein Name“ wurde, war Zufall, da mir dieser bei der Suche nach einem anderen Buch in der Buchhandlung in die Finger geriet und der Klappentext sowie eine erste Leseprobe sogleich mein Interesse weckten. So erwarb ich diesen Roman – und bei der späteren Lektüre erwies sich glücklicherweise, dass mein erste Eindruck nicht trog und das Buch meinem Geschmack entsprach.

„Rot ist mein Name“ ist kein Roman, der sich leicht nebenbei lesen ließe, sondern fordert einige Aufmerksamkeit, die er dafür aber auch voll und ganz verdient. Ich kann „Rot ist mein Name“ jedem, der die notwendige Geduld für erzählerische Bücher mitbringt, auch längere Beschreibungen genießen kann, sich auf andere Sichtweisen einzustellen bereit ist und interessante Kompositionen zu schätzen weiß, empfehlen.

Für alle, die es genauer wissen wollen, hier aber auch noch eine ausführlichere Vorstellung:

Wie um von vornherein klar zu stellen, dass es sich bei diesem Buch wirklich, wie auf dem Umschlag behauptet, um einen Krimi handelt, eröffnet der Roman direkt mit dem zu klärenden Mordfall – allerdings aus ungewöhnlicher Perspektive. Der erste Absatz des ersten Kapitels, welches passend „Ich bin tot“ benannt ist, beginnt nämlich mit:

Ein Toter bin ich nun, eine Leiche auf dem Grund eines Brunnens. Schon längst tat ich meinen letzten Atemzug, schlug mein Herz ein letztes Mal, doch niemand weiß, was mir geschah, nur mein ruchloser Mörder.
(Orhan Pamuk: Rot ist mein Name, übersetzt von Ingrid Iren, 10. Auflage, Frankfurt a.M.: Fischer 2006, S. 11)

Und noch innerhalb dieses Kapitels wird vom Ermordeten selbst klar gestellt, dass es – seiner Meinung nach – bei seinem Tod um mehr als nur sein Leben ging:

Wer ist mein Mörder, gegen den ich eine solche Wut empfinde, und warum hat er mich auf diese gänzlich unerwartete Weise umgebracht? Versucht es herauszufinden! Die Welt ist voller gemeiner Mörder, die alle nichts taugen, der eine wie der andere, was soll’s, sagt ihr? Dann will ich euch sogleich warnen: Hinter meinem Tod steht eine widerwärtige Verschwörung gegen unseren Glauben, unsere Tradition und unsere Art, die Welt zu sehen. Öffnet Eure Augen, erkundet warum die Feinde des Islam, die Feinde jeden Lebens, an das ihr glaubt, mich umbrachten und eines Tages auch Euch umbringen könnten.
(Orhan Pamuk: Rot ist mein Name, übersetzt von Ingrid Iren, 10. Auflage, Frankfurt a.M.: Fischer 2006, S. 14 f.)

Diese Subjektivität des Erlebten schafft Orhan Pamuk während des gesamten Romans aufrecht zu erhalten, indem er die Protagonisten wechselnd stets aus ihrer Sicht erzählen lässt, was Ihnen widerfährt, wie sie das Handeln anderer auffassen oder warum sie selbst für notwendig/richtig halten, was sie tun.
Da sind zum Beispiel die anderen drei Buchmaler-Meister, die früher gemeinsam mit dem Ermordeten in der Buchmaler-Werkstatt Istanbuls zur Lehre gingen und zur Zeit alle an einem geheimen Buch arbeiteten. Sie äußern sich jeweils in Kapiteln, die mit „Man nennt mich Schmetterling“, „Man nennt mich Storch“ bzw. „Man nennt mich Olive“ betitelt sind und erhalten dabei die Gelegenheit, ihren Standpunkt und ihre Auffassung zum Ausdruck zu bringen. Ebenso kommen auf diese Weise der Buchhändler („Ich bin Euer Oheim“), der die Erstellung des geheimen Buches übernommen hat, und der Leiter der Buchmaler-Werkstatt („Ich, Altmeister Osman“) zu Wort.
Dabei sind alle jedoch nicht ganz aufrichtig, denn wer erzählt schon gerne Schlechtes über sich selbst, versucht doch viel mehr jeder, sich und sein Verhalten anderen – und oft auch sich selbst gegenüber – in ein gutes Licht zu stellen. Einer von ihnen verstellt sich jedoch absichtlich um einiges mehr, wie er zugibt, wenn er sich und seine Tat – wohl darauf bedacht, nicht zu verraten, welcher von ihnen er ist – in den Kapiteln „Sie werden mich Mörder nennen“ zu rechtfertigen versucht. Dadurch erhält der Leser Einblick in die Beweggründe, ohne aber den Täter zu erkennen, denn da alle nicht völlig aufrichtig sind, ist schwer, zu ergründen, wer er ist.
Dieser Aufgabe stellt sich Kara, der Neffe des Buchhändlers, der in den Kapiteln „Mein Name ist Kara“, die Geschehnisse aus seiner Sicht wieder gibt. Angenehm dabei ist, dass der Leser sich bei diesem Ich-Erzähler endlich relativ sicher sein kann, dass er den Mord nicht verübte und sich wirklich um dessen Aufklärung bemüht.
Mit Kara eröffnet sich aber zugleich auch ein weiterer Aspekt dieses Buches, denn es wird schnell klar, dass Kara nur so um die Aufklärung bemüht ist, da er seine Jugendliebe, die er nach 12jähriger Abwesenheit von Istanbul wieder erblickte, für sich zu gewinnen versucht. Es handelt sich um Seküre, die Tochter des Oheims, die jedoch inzwischen zwei Kinder hat und mit einem Mann verheiratet ist, der aber wiederum bereits seit mehreren Jahren nicht aus dem Feld zurückkehrte, weshalb ihr dessen Bruder mittlerweile den Hof macht. Wie Seküre dies alles empfindet und warum sie sich verhält, wie sie sich verhält, ist den Kapiteln „Ich, Seküre“ zu entnehmen. In gewisser Weise kommentiert wird dies in den Kapiteln „Mein Name ist Ester“ von der Jüdin, die zu dieser Zeit in Istanbul üblicher Weise von Verliebten heran gezogen wird, um Brieflein aus zu tauschen.

Somit handelt es sich bei diesem Roman offensichtlich um einen relativ komplexen, durch die diversen Ich-Perspektiven interessant gestalteten Kriminalroman und eine verzwickte Liebesgeschichte (wobei ich hier anmerken möchte, dass ich mich mit Seküre nicht recht identifizieren konnte und mir ihr taktierendes Schwanken missfiel).

Es handelt sich darüber hinaus aber um einen Roman, in dem der östlichen Erzählkunst viel Raum gegeben wird. Zum Einen werden von dem Befragten anstatt auf eine Frage direkt zu antworten drei lehrreiche Geschichten erzählt (Elif, Be, Cim), von denen die dritte zumeist – zumindest in gewisser Weise, bzw. von mir leider nicht immer ganz nachvollziehbar – eine vereinigende Moral der ersten beiden transportieren soll. Außerdem ziehen die Erzählenden zur Rechtfertigung ihres Tuns und ihrer Auffassung immer wieder Beispiele aus alten tradierten Geschichten heran. Zum Anderen gibt es eine Reihe von Kapiteln in denen ein Meddah, ein Meistererzähler, seine Stimme einer Zeichnung verleiht, die er in dem Kaffeehaus, in dem sich Buchmaler und Kalligraphen am Abend versammeln, hinter sich an die Wand pinnt. Dabei fügen sich diese zuerst zusammenhanglos scheinenden Geschichten bald in das Ganze, denn seltsamer Weise handelt es sich um Bilder, wie sie in dem geheimen Buch vorkommen, und die erzählten Geschichten enthalten einige Anspielungen…

Als Beispiel – und um Appetit auf mehr zu wecken – sei hier die Einleitung zu der „Geschichte von meinem Fall aus meiner Geschichte, in der ich wie ein Blatt vom Baum gefallen bin“ im Kapitel „Ich bin ein Baum“ zitiert:

Ein Baum bin ich und bin sehr einsam. Wenn es regnet, weine ich. Hört um Allahs Willen an, was ich Euch zu sagen habe. Trinkt Euren Kaffee, vertreibt die Schläfrigkeit, öffnet die Augen, spitzt die Ohren, und ich werde euch schildern, warum ich so einsam bin.
1. Ich bin, behauptet man, eiligst auf grobes, glanzloses Papier hingeworfen worden, damit hinter dem Meister-meddah das Bild eines Baumes hänge. Richtig. Es gibt jetzt neben mir weder andere zarte Bäume noch siebenblättrige Steppengräser, auch kein dunkles, bizarres Gestein, das manchmal dem Teufel, manchmal dem Menschen ähnlich ist, und auch keine chinesischen Kringelwolken am Himmel. Bloß der Boden, der Himmel, ich, eine Linie als Horizont. Doch meine Geschichte ist viel verschlungener.
2. Als ein Baum muss ich nicht unbedingt Teil eines Buches sein. Doch es raubt mir den Frieden, daß ich als Bild eines Baumes kein Blatt in einem Buch bin. Da ich aber nicht als Darstellung zu einem Buch gehöre, könnte man, so denke ich, mein Bild an die Wand hängen, wie es die Götzendiener oder die Ungläubigen tun, sich vor mir niederwerfen und mich anbeten. Soll es den Hodschas aus Erzurum nicht zu Ohren kommen, aber insgeheim bin ich stolz darauf, dann auch wieder beschämt und voller Furcht.
3. Der eigentliche Grund für meine Einsamkeit liegt darin, dass ich nicht weiß, zu welcher Erzählung ich gehöre. Ich sollte Teil einer Geschichte sein, doch ich bin wie ein Blatt vom Baum herabgefallen. Also muss ich sie erzählen.
(Orhan Pamuk: Rot ist mein Name, übersetzt von Ingrid Iren, 10. Auflage, Frankfurt a.M.: Fischer 2006, S. 69)

Hauptsächlich geht es in „Rot ist mein Name“ aber um die osmanische Buchmalkunst, die über Jahrhunderte Ideale pflegte, die geprägt von den alten persischen Meistern waren, und Ende des 16. Jahrhunderts mit der fränkischen Malerei, also der Abbildung von Individuen und dem Einsatz von Perspektive, konfrontiert wurde.
Neben der ausführlichen und anschaulichen Beschreibung einzelner Bilder und der kurzgefassten Erzählung der Geschichten, die sie illustrieren, die für mich allesamt neu waren, waren für mich auch die Erläuterungen, warum im osmanischen Reich auf diese Art illustriert wurde, neu. Ich habe dadurch nicht nur viel über die persische bzw. osmanische Buchmalkunst gelernt, sondern vor allem, dass vieles, was ich bisher für fehlende Entwicklung hielt, aufgrund religiöser bzw. interessanter philosophischer bzw. erkenntnistheoretischer Überzeugungen bewusst beibehalten wurde. So z.B. die fehlende Perspektive. Denn da die osmanischen Illustratoren danach trachteten die Welt so darzustellen, wie Allah sie wahrnahm, bot die Beobachtung, dass das menschliche Auge fehlerhaft vortäuscht, dass Dinge unabhängig von ihrer Bedeutung in der Ferne kleiner seien, als in der Nähe, keinerlei Anlass an der Wahrnehmung Allahs aller Dinge im rechten Verhältnis zueinander zu rütteln, die somit das Maß der Illustration blieb.
In „Rot ist mein Name“ ist aber keine philosophische oder kunsttheoretische Abhandlung eingebunden, derartige Überlegungen können lediglich den verschiedenen Argumentationen und erläuterten Sichtweisen der unterschiedlichen Ich-Erzähler entnommen werden. Der ganze Roman ist jedoch ganz offensichtlich ein Versuch – eingebunden in einen spannenden Kriminalfall – die unglaublich akribische, Geduld und Geschick erfordernde Arbeit der Illustratoren zu vermitteln und einen Zugang zu ihrem Werk zu eröffnen, das so in Vergessenheit geriet.

Gleichzeitig kann man diesen Roman, in dem selbst die Protagonisten stets lehrreiche Geschichten der Vergangenheit zur Erläuterung ihrer gegenwärtigen Auffassungen und Situation heranziehen, vielleicht auch als lehrreiche Geschichte dafür auffassen, in welch schwieriger Situation sich die Türkei heute befindet, wo sie sich wiederum entscheiden muss, inwieweit sie sich westlichen Einflüssen öffnen will und abzuschätzen versucht, welche Auswirkungen dieses auf ihre Traditionen haben wird.


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