Lectrix – Notizen einer Leserin

31. Dezember 2006

Wolfgang Jeschke: Das Cusanus-Spiel

Filed under: Wolfgang Jeschke — Lectrix @ 14:00

Zwischen den Jahren las ich auch noch diesen Roman zu Ende – bzw. verschlang ihn förmlich, weil er mich völlig in seinen Bann zog. Dabei hatte mich der Anfang zunächst abgeschreckt, weshalb ich ihn im November, als ich die ersten vier Kapitel las, erstmal als zu eklig, zu reißerisch und mich eigentlich nicht recht interessierend bei Seite legte. Irgendwie blieb ich aber neugierig, finden sich im Internet doch jede Menge vielversprechende Empfehlungen und positive Kritiken. Und so gab ich dem Buch eine zweite Chance.

Eine zweite Chance, die das Buch wahrlich verdient hat. Ab Kapitel 5 gefiel es mir nämlich. Die meisten folgenden Kapitel sogar sehr gut. Das Ende ist mir persönlich allerdings dann etwas zu groß – für mich hätte es kleiner auch gereicht, aber das ist sicherlich Geschmacksache. Vielen wird diese metaphysische Auflösung gefallen.

Drei Aspekte finde ich bei diesem Roman besonders erwähnenswert:

Es gelang Wolfgang Jeschke

1. einen Roman über Zeitreisen zu schreiben, bei dem eine interessante Methode der Zeitreise vorgestellt und dabei zugleich Zeitparadoxa so weit möglich vermieden werden.

2. eine erschreckende Beschreibung einer Landschaft und Gesellschaft nach einer atomaren Katastrophe. (Mich umso mehr bedrückend, als es sich um Deutschland handelt und es nicht Folge eines Krieges sondern eines Unfalls ist.)

3. eine geschickte Verknüpfung eines Science-Fiction-Buchs und eines historischen Romans, wozu nebenbei noch ein Entwurf einer alternativen Geschichtsentwicklung kommt.

Allen, die sowohl Science-Fiction als auch historische Romane mögen und physikalischen sowie philosophischen Überlegungen gegenüber aufgeschlossen sind, kann ich dieses Werk Wolfgang Jeschkes also empfehlen.


27. Dezember 2006

Neil Gaiman: Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel

Filed under: Neil Gaiman — Lectrix @ 10:10

Auch dieses Jahr schenkten wir unseren Gastgebern an den Weihnachtsfeiertagen wieder ein Buch, welches gleichermaßen für Erwachsene spannend als auch für Kinder zum Zuhören geeignet erscheint, da an den Abenden wieder reihum vorgelesen werden sollte – wie es allmählich Tradition in unserem Kreis geworden ist.

Auf „Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel“ stieß ich, als ich mich eigentlich nach weiteren Büchern von Neil Gaiman für mich umsah – aber da die Beschreibung „Horrorbuch für Kinder“ bzw. „modernes Gruselmärchen“ vielversprechend klangen, konnte ich nicht widerstehen, diese Geschichte zum Vorlesen auszuwählen.

Und wir wurden nicht enttäuscht:
„Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel“ bietet eine spannende Geschichte mit jede Menge Grusel. Aber der Horror scheint für Erwachsene schlimmer zu sein, als für Kinder, die einige Passage wesentlich cooler hinnahmen als wir Erwachsenen das konnten, die es grauste…

»Coraline?«
Das klang nach ihrer Mutter. Coraline ging in die Küche, aus der die Stimme gekommen war. In der Küche stand eine Frau, die Coraline den Rücken zuwandte. Sie sah ein bisschen wie Coralines Mutter aus. Außer…
Außer dass ihre Haut so weiß wie Papier war.
Außer dass sie größer und dünner war.
Außer dass sie zu lange Finger hatte, die ständig in Bewegung waren. Und blutrote Fingernägel, die gekrümmt waren und ganz spitz zuliefen.
»Coraline?«, sagte die Frau. »Bist du’s?«
Und dann drehte sie sich um. Ihre Augen waren große, schwarze Knöpfe.
»Es gibt gleich Mittagessen, Coraline«, sagte die Frau.
»Wer bist du?«, fragte Coraline.
»Ich bin deine andere Mutter«, sagte die Frau.
(Neil Gaiman: Coraline. Gefangen hinter dem Spiegel, München: Heyne 2005, S. 34)


26. Dezember 2006

Terry Pratchett: Ein Hut voller Sterne. Ein Märchen von der Scheibenwelt

Filed under: Terry Pratchett — Lectrix @ 18:30

Letztes Jahr schenkten wir unseren Gastgebern während der Weihnachtstage „Kleine freie Männer. Ein Märchen von der Scheibenwelt“. Als ich dieses Jahr mit „Ein Hut voller Sterne. Ein Märchen von der Scheibenwelt“ die Fortsetzung davon in ihrem Bücherregal fand, freute ich mich zwiefach: Zum Einen deute ich das doch als sicheres Zeichen, dass Ihnen unser damaliges Geschenk gefiel, zum Anderen erhielt ich dadurch die Gelegenheit, die Fortsetzung während unseres Aufenthaltes selbst zu lesen. Noch mehr freute ich mich allerdings, als ich zu lesen begann, denn „Ein Hut voller Sterne“ ist wahrlich lesenswert.

Es ist zwar in einer Fantasywelt angesiedelt, es gibt Hexen und märchenhafte Gestalten, aber das heißt nicht, dass es sich dabei „nur“ um einen Fantasyroman handeln würde, dass man aus diesem Buch nicht auch viel über das Leben, die Menschen und Menschenführung lernen könnte. Die Romane um Tiffany Weh weisen m.E. nämlich durchaus einige Gemeinsamkeiten mit den klassischen Bildungsromanen auf.

Zum Beispiel die Sache mit dem Abort der Raddels. Frau Grad hatte Herrn und Frau Raddel mehrmals geduldig erklärt, dass er viel zu nahe beim Brunnen stand und das Trinkwasser deshalb voller winzig kleiner Tierchen war, die die Kinder krank werden ließen. Sie hatten jedes Mal aufmerksam zugehört und den Abort nie verlegt. Frau Wetterwachs behauptete, hinter den Krankheiten steckten böse Kobolde, die von dem Geruch angelockt wurden, und als sie die Hütte verließen, gruben Herr Raddel und drei seiner Freunde auf der anderen Seite des Gartens einen neuen Brunnen.
»Die Krankheiten werden tatsächlich von winzigen Geschöpfen verursacht, weißt du«, sagte Tiffany, die einmal einem reisenden Lehrer ein Ei gegeben hatte, um sein **Erstaunlicher mikroskopischer Apparat! Ein Zoo in jedem Tropfen abgestandenem Wasser** zu sehen. Am nächsten Tag hätte sie fast einen Zusammenbruch erlitten, weil sie nichts trank. Einige der Geschöpfe waren haarig gewesen.
»Stimmt das?«, fragte Frau Wetterwachs sarkastisch.
»Ja. Und Frau Grad legt Wert darauf, immer die Wahrheit zu sagen!«
»Ausgezeichnet. Sie ist eine gute, ehrliche Frau«, sagte Frau Wetterwachs. »Doch ich meine: Man muss den Leuten eine Geschichte erzählen, die sie verstehen. Ich glaube, derzeit müsste man ziemlich viel von der Welt verändern und Herrn Raddels dummen dicken Kopf ein paar Mal gegen die Wand stoßen, bis er glaubt, dass man krank werden kann, wenn man Wasser mit unsichtbaren Tieren darin trinkt. Und während man damit beschäftigt ist, geht es den Kindern schlechter. Böse Kobolde… Das ergibt heute einen Sinn. Und die Geschichte bewirkt, dass die Dinge richtig laufen. Und wenn ich morgen Fräulein Tick sehe, sage ich ihr, es wird Zeit, dass die reisenden Lehrer hierher kommen.«
[…]
Sie sah zur Seite, bemerkte Tiffanys Gesichtsausdruck und klopfte ihr auf die Schulter.
»Schon gut«, sagte sie. »Sieh es so: Morgen besteht deine Aufgabe darin, die Welt in einen besseren Ort zu verwandeln. Und meine Aufgabe ist es heute dafür zu sorgen, dass ihn alle erreichen.«
(Terry Pratchett: Ein Hut voller Sterne. Ein Märchen von der Scheibenwelt, München: Manhattan 2006, S. 255-257)

Wie an diesem Zitat deutlich werden dürfte, handelt es sich nichtsdestotrotz um einen Terry Pratchett. Ich meine, der Humor kommt nicht zu kurz. Es werden zwar einige Denkanstöße gegeben, aber vor allem wird viel Anlass zum Schmunzeln geboten.

Besonders gefreut hat mich in diesem Zusammenhang, dass man beim zweiten Teil der Reihe nicht nur Tiffany Weh wieder begegnet, sondern auch den Wir-sind-die-Größten, diesen knapp 15 cm großen Kobolden, mit ihrer unerschrockenen Einsatzbereitschaft, ihren ganz eigenen Moralvorstellungen und ihren herzerfrischenden Denkweisen, die ich bereits bei „Kleine freie Männer. Ein Märchen von der Scheibenwelt“ lieb gewann.

Frau Grad sah zur Uhr ohne Zeiger. »Es wird spät«, sagte sie. »Was genau schlägst du vor, Herr Irgendwer?«
»Wie bitte?«
»Habt ihr einen Plan?«
»Oh, ja!«
Rob Irgendwer kramte in dem Lederbeutel, den die meisten Größten an ihrem Gürtel tragen. Ihr Inhalt ist normalerweise ein Geheimnis, aber manchmal zählen interessante Zähne dazu.
Er holte einen mehrfach gefalteten Zettel hervor.
Frau Grad entfaltete ihn vorsichtig.
»PLN?«, las sie.
»Ja«, sagte Rob stolz. »Wir sind vorbereitet! Es ist aufgeschrieben! Peh Ell Enn. Plan.«
»Äh… wie soll ich es ausdrücken…« Frau Grad überlegte. »Ihr seid den ganzen weiten Weg hierher geeilt, um Tiffany vor einem Geschöpf zu retten, das man nicht sehen, nicht berühren, nicht riechen und nicht töten kann. Was habt ihr vor, wenn ihr es findet?«
Rob Irgendwer kratzte sich am Kopf, was einen Regen aus verschiedenen Objekten verursachte.
»Ich glaube, da hast du den schwachen Punkt des Plans entdeckt«, gestand er.
(Terry Pratchett: Ein Hut voller Sterne. Ein Märchen von der Scheibenwelt, München: Manhattan 2006, S. 193 f.)

Was es mit dem Geschöpf, das man nicht sehen, nicht berühren, nicht riechen und nicht töten kann, genauer auf sich hat, und wie und mit welcher Hilfe Tiffany diese Bedrohung letztlich meistert, liest jeder, der Freude an solchen Geschichten hat, am Besten selbst.

Ich freue mich nun jedenfalls schon auf „Der Winterschmied“ – die Fortsetzung , die im Februar erscheinen soll.


18. Dezember 2006

Robert Harris: Vaterland

Filed under: Robert Harris — Lectrix @ 19:00

Bisher stand ich Werken des Genres „Alternative Geschichte“ äußerst skeptisch gegenüber.

Innerhalb des letzten Monats empfahlen mir aber verschiedene Bekannte unabhängig voneinander dieses Buch. Da es von Robert Harris ist und mir dessen Roman „Pompeiji“ so ausgesprochen gut gefiel, beschloss ich, ihm eine Chance zu geben.

Jetzt muss ich zugeben, „Alternative Geschichte“ kann sehr interessant und lesenswert sein.
„Vaterland“ ist dieses auf jeden Fall.

Dieser Roman ist darüber hinaus auch noch spannend, denn „Vaterland“ führt nicht nur in einer Art Gedankenexperiment überzeugend vor, wie Deutschland bzw. „Das Großdeutsche Reich“ in den sechziger Jahren ausgesehen haben könnte, wenn Deutschland den 2. Weltkrieg gewonnen hätte, sondern ist insbesondere auch ein Thriller, bei dem diese Szenerie nicht nur als Kulisse dient und der eine konsequente sowie in sich schlüssige Auflösung bietet.

Eine Beschreibung des Inhalts ist schwierig, will man nicht zu viel verraten. Relativ unbedenklich kann aber darauf hingewiesen werden, dass eine Woche vor dem 75. Geburtstag des Führers eine Leiche am Ufer eines der Havelseen entdeckt wird und Xaver März, Mordfahnder der Berliner Kriminalpolizei, die Aufklärung des Falls übernimmt. Da sich weder Kleidung noch Papiere finden lassen, bittet er Otto Koth, den stellvertretenden Leiter der Fingerabdruckabteilung darum, die Abdrücke der Leiche in der Verbrecherkartei nachzuschlagen. Noch am selben Tag erhält er folgenden Anruf:

»Tut mir so leid, Sie zu wecken.« Koth war sarkastisch. »Aber ich dachte, dass dies Vorrang hat. Soll ich morgen nochmal anrufen?«
»Nein, nein.« März war hellwach.
»Sie werden das mögen. Das ist wunderbar.« Zum ersten Mal in seinem Leben hörte März Koth kichern. »Alsdann, Sie spielen doch keine Spielchen mit mir? Das ist doch kein kleiner Witz, den Sie und Jäger sich miteinander ausgeknobelt haben?«
»Wer ist es?«
»Zuerst den Hintergrund.« Koth amüsierte sich viel zu sehr, als dass er sich hetzen ließ. »Wir mussten weit zurückgehen, um die Entsprechung zu finden. Sehr weit zurück. Aber wir haben sie gefunden. Perfekt. Kein Zweifel. Über Ihren Mann gibt es tatsächlich eine Akte. Er ist ein einziges Mal in seinem Leben verhaftet worden. Von unseren Kollegen in München vor vierzig Jahren. Um genau zu sein, am 9. November 1923.«
Schweigen. Fünf, sechs, sieben Sekunden verstrichen.
»Aha! Ich merke, dass selbst Sie die Bedeutung dieses Datums erkennen.«
»Ein alter Kämpfer.« März griff neben den Sessel nach seinen Zigaretten. »Sein Name?«
»In der Tat. Ein alter Parteigenosse. Zusammen mit dem Führer nach dem Putsch im Bürgerbräukeller verhaftet. Sie haben einen der ruhmreichen Pioniere der Nationalsozialistischen Revolution aus dem See gefischt.« Koth lachte wieder. »Ein klügerer Mann hätte ihn da gelassen, wo er war.«
»Wie heißt er?«
(Robert Harris: Vaterland: Goldmann (Lizenz-Ausgabe für die Stern Krimi-Bibliothek) 2005, S. 51 f.)

Bei den weiteren Ermittlungen wird Xaver März schnell deutlich, dass einflussreiche Personen mit skrupelosen Methoden versuchen, sowohl die aktuellen Ereignisse als auch die sich nach und nach abzeichnenden Zusammenhänge zu vertuschen, deren publik werden gerade in Anbetracht des angekündigten Besuches Präsident Kennedys äußerst unpassend wären…

Jedem der Politthriller mag und sich einmal auf andere Weise mit dem Schrecken des Nationalsozialismus auseinander setzen möchte, ist dieser Roman damit zu empfehlen.


10. Dezember 2006

Eric-Emmanuel Schmitt: Das Kind von Noah

Filed under: Eric-Emmanuel Schmitt — Lectrix @ 12:00

Da mich „Das Evangelium nach Pilatus“ im Sommer so begeisterte, entlieh ich gezielt Eric-Emmanuel Schmitts Erzählung „Das Kind von Noah“ aus der Bibliothek, um sie zusammen mit meinem Lebenspartner Probe zu lesen und zu entscheiden, ob wir sie zu Weihnachten verschenken wollen.

Und, wir kamen zu dem Schluss, dass man diese Erzählung fast jedem sehr gut schenken kann, denn einerseits wird die Geschichte in ganz einfachen, schlichten Worten und Sätzen erzählt, andererseits widmet sie sich einem interessanten, heiklen Thema:

Jude zu sein, das bedeutete im Augenblick: Ich konnte nicht bei meinen Eltern bleiben, hatte einen Namen, den man besser durch einen anderen ersetzte, mußte ständig meine Gefühle kontrollieren und immerzu lügen. Was also war daran gut? Da war ich doch lieber ein kleines katholisches Waisenkind, aber ehrlich!
(Eric-Emmanuel Schmitt: Das Kind von Noah, aus dem Französischen übersetzt von Ines Koebel, Zürich: Ammann 2004, S. 49)


9. Dezember 2006

Tim Krabbe: Das goldene Ei

Filed under: Tim Krabbe — Lectrix @ 8:00

Als ich das letzte Mal in der Bibliothek war, war keines der Bücher auf meiner Liste von Büchern, die ich in nächster Zeit lesen und darum entleihen wollte, vorhanden. Nur um nicht umsonst da gewesen zu sein, streifte ich durch die Regale und guckte in das ein oder andere Buch, um eines spontan auszuwählen. Dabei fiel mir „Das goldene Ei“ von Tim Krabbe in die Hände.

Ein echter Glücksgriff!

Weder der Titel noch der Autor sagten mir zuvor etwas.
Doch letzte Nacht habe ich es in einem Rutsch durchgelesen.

Glücklicherweise ist es nicht so dick und auch recht groß geschrieben, so dass ich dafür nur knapp mehr als drei Stunden benötigte. Aber ich hätte es vermutlich auch in einem Zug zu Ende gelesen, wenn ich dafür eine Stunde länger gebraucht hätte. Zu gut ist die Geschichte aufgebaut. Zu spannend die Frage, was Saskia widerfahren ist und ob Rex es herausfinden wird. Zu interessant zu verfolgen, wie perfektionistisch und zugleich amoralisch ein Mensch sein kann…

Ich kann mich eigentlich nun nur wiederholen:
Ein echter Glücksgriff!


8. Dezember 2006

Jose Saramago: Der Doppelgänger

Filed under: Jose Saramago — Lectrix @ 23:45

Dieser Roman von Jose Saramago hat mir sehr gefallen.

Durch das Buch Die Stadt der Blinden war ich bereits mit der ungewöhnlichen Interpunktion dieses Autors, den unendlichen Absätzen sowie den ausbleibenden Abgrenzungen der Beträge verschiedener Gesprächsteilnehmer vertraut – wusste also schon vorher, was auf mich zu kommt, konnte mich darauf einstellen und somit die Lektüre von der ersten Seite an genießen.

Und die Lektüre ist ein wahrer Genuss.

Allerdings darf man es nicht zu eilig mit dem Fortgang der Geschichte haben. Stattdessen sollte man sich auf die Art und Weise der Erzählung einlassen können und sich daran erfreuen, denn Jose Saramago erlaubt sich immer wieder Einschübe, die einerseits natürlich die Geschichte, im Sinne des Fortgangs der Handlung, zu unterbrechen scheinen, andererseits aber gerade den besonderen Reiz dieses Buches ausmachen und für die Schaffung der Atmosphäre unentbehrlich sind.

Ein Beispiel:

Für den Berichterstatter oder den Erzähler, denn höchstwahrscheinlich bevorzugt man eine Figur mit akademischen Siegel, wäre es an diesem Punkt ein Leichtes zu schreiben, auf dem Heimweg des Geschichtenerzählers durch die Stadt, bis hin zu seiner Wohnung, ereignete sich nichts. Als wären sie eine Art Zeitmaschine, werden diese vier Worte, es ereignete sich nichts, überwiegend in Situationen eingesetzt, in denen professionelle Skrupel es nicht zu lassen, eine Rauferei auf der Straße oder einen Verkehrsunfall zu erfinden, deren einziger Zweck es wäre, Lücken in der Handlung zu füllen, wo doch die Dringlichkeit besteht, zur nächsten Episode zu gelangen, oder vielleicht ungewiss ist, was mit den Gedanken, welche die Figur selbst hervorbringt, zu machen sei, vor allem dann, wenn diese nichts mit den Lebensumständen zu tun haben, in denen sie entscheiden und handeln soll. Genau in einer solchen Lage befand sich unser Lehrer und frischgebackener Videoliebhaber Tertuliano Maximo Afonso, als er im Auto nach Hause fuhr. Es ist wahr, dass er nachdachte, viel sogar und intensiv, doch seine Gedanken waren so weit entfernt von all dem, was er in den letzten vierundzwanzig Stunden durchlebt hatte, dass die Geschichte, die zu erzählen wir uns vorgenommen haben, unweigerlich eine andere würde, wollten wir seine Gedanken in unsere Erzählung aufnehmen. Dies könnte sich natürlich lohnen, oder besser gesagt, es würde sich wahrscheinlich lohnen, denn schließlich wissen wir alles über Tertuliano Maximo Afonsos Gedanken, doch das hieße, alle bisher unternommenen Anstrengungen, diese fünfzig kompakten, mühsam erarbeiteten Seiten, für null und nichtig zu erklären und an den Anfang zurückzukehren, zur ironischen, trotzigen ersten Seite, und eine bereits geleistete anständige Arbeit eines riskanten Abenteuers wegen, das nicht nur neu und anders, sondern auch höchst gefährlich wäre, auf Spiel zu setzen, denn dazu würden uns die Gedanken Tertuliano Maximo Afonsos ohne Zweifel bringen. Begnügen wir uns also mit dem Spatz in der Hand und verzichten wir auf die Taube auf dem Dach. Für mehr bleibt auch keine Zeit. Tertuliano Maximo Afonso hat soeben sein Auto eingeparkt, legt die kurze Entfernung bis zu seinem Haus zurück, in der einen Hand die Aktentasche, in der anderen die Plastiktüte, was geht ihm wohl durch den Kopf, natürlich rechnet er sich aus, wie viele Videos er bis zum Schlafengehen sichten kann, ein heikles Wort, das hat man nun davon, wenn man sich für Nebendarsteller interessiert, wäre der Typ ein Star, erschiene er gleich auf den ersten Bildern.
(Jose Saramago: Der Doppelgänger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 61 f.)

Meiner Empfindung nach schafft Jose Saramago durch diesen Einschub ein Gefühl der Gleichzeitigkeit, der Echtzeit. Der Erzähler füllt die Zeit aus, die für den Protagonisten vergeht, die für die Geschichte und damit den Leser aber nicht interessant ist, muss sich dann aber beeilen, ähnlich wie ein Sportkommentar, um den Protagonisten wieder ein zu holen, als dieser etwas tut, was interessant sein könnte. In diesem Sinne sind Einschübe wie dieser also keine Unterbrechungen der Handlung. Eine faszinierende Komposition, ein Kunstgriff, der im Laufe des Romans desöfteren angewendet wird.

Es gibt etliche weitere literarische Extravaganzen in diesem Buch, die mir Vergnügen bereiteten:
So erlaubt sich der Erzähler immer wieder Anmerkungen auf der Meta-Ebene, mittels derer er das Verhalten des Protagonisten zum Teil kommentiert, kritisiert oder erläutert bzw. deutet. Hin und wieder rechtfertigt sich der Autor auch für seine Darstellung. Es werden darüber hinaus häufig mehr oder weniger in den jeweiligen Zusammenhang passende allgemeinere, grundsätzlichere Überlegungen eingeschoben oder Mutmaßungen über alternative Handlungsoptionen im Konjunktiv angestellt, die es gäbe, wenn denn der Protagonist andere Vorerfahrungen mitbrächte, an etwas anderes gedacht hätte, eine Randbegebenheit anders verlaufen wäre…

Das Buch ist aber nicht nur stilistisch interessant, sondern auch thematisch:
Der Protagonist Tertuliano Maximo Afonso interessiert sich nämlich nur deshalb für Nebendarsteller, da er in einem Videofilm, plötzlich in einer Nebenrolle einen Schauspieler sah, der ihm selbst auf den ersten Blick verblüffend ähnlich zu sehen schien. Bei genauerer Betrachtung stellt er irritiert fest, dass dieser Schauspieler ihm nicht nur ähnlich sieht, sondern tatsächlich äußerlich zu gleichen scheint. Noch verwunderter ist er, als ihm klar wird, dass der Bart, den jener Schauspieler trägt, und der ihn zumindest etwas anders aussehen sieht, dem Bart gleicht, den er vor wenigen Jahren noch hatte – zu der Zeit, als der Film gedreht wurde. Völlig aufgewühlt von der Erkenntnis, dass es einen Doppelgänger zu geben scheint, macht er sich daran, den Namen dieses Schauspielers heraus zu finden, um mit ihm Kontakt aufnehmen zu können…

Was dann passiert, ist spannend.
Kriminalistisch, philosophisch und psychologisch interessant.
Dabei immer wieder auf unterschiedliche Weise gebrochen.

Fazit:
Sofern man literarische Extravaganzen zu schätzen weiß, eine äußerst lohnenswerte Lektüre.


3. Dezember 2006

John Grisham: Die Schuld

Filed under: John Grisham — Lectrix @ 22:00

Nach längerer Zeit habe ich mal wieder einen Roman von John Grisham gelesen, bzw. mir mit meinem Lebenspartner abwechselnd vorgelesen.

Wie erwartet bot John Grisham auch dieses Mal einen ernüchternden Einblick in das (us-amerikanische – nur us-amerikanische?) Justizwesen.

Es ist schon erschreckend, was für ein enormes Geschäft in Amerika Schadensersatzklagen – bzw. inbesondere für die Anwälte einträgliche Vergleiche zur Abwendung kostspieliger Schadensersatzklagen – für skrupellose, mehr auf ihre eigene Bereicherung und ihr steigendes Prestige als auf die Interessen ihrer Klienten bedachte Anwälte sind.

Aber irgendwie wusste man das ohnehin, bzw. argwöhnte das zumindest immer schon.

Erschreckender, mich wirklich Nerven kostend, war daher eher die genaue und Schritt für Schritt nachvollzogene Entwicklung, mit der der zu Beginn des Buches so nett und idealistisch wirkende Hauptprotagonist Clay an seinen ersten Schadensersatzfall kommt, in den Sog des Erfolgs gerät und sich in Folge der seiner Meinung nach an ihn gestellten Erwartungen vorliegenden Sachzwänge immer mehr den Geschäftspraktiken der anderen auf Schadensersatzklagen spezialisierten Staranwälte angleicht…


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