Dieser Roman von Jose Saramago hat mir sehr gefallen.
Durch das Buch Die Stadt der Blinden war ich bereits mit der ungewöhnlichen Interpunktion dieses Autors, den unendlichen Absätzen sowie den ausbleibenden Abgrenzungen der Beträge verschiedener Gesprächsteilnehmer vertraut – wusste also schon vorher, was auf mich zu kommt, konnte mich darauf einstellen und somit die Lektüre von der ersten Seite an genießen.
Und die Lektüre ist ein wahrer Genuss.
Allerdings darf man es nicht zu eilig mit dem Fortgang der Geschichte haben. Stattdessen sollte man sich auf die Art und Weise der Erzählung einlassen können und sich daran erfreuen, denn Jose Saramago erlaubt sich immer wieder Einschübe, die einerseits natürlich die Geschichte, im Sinne des Fortgangs der Handlung, zu unterbrechen scheinen, andererseits aber gerade den besonderen Reiz dieses Buches ausmachen und für die Schaffung der Atmosphäre unentbehrlich sind.
Ein Beispiel:
Für den Berichterstatter oder den Erzähler, denn höchstwahrscheinlich bevorzugt man eine Figur mit akademischen Siegel, wäre es an diesem Punkt ein Leichtes zu schreiben, auf dem Heimweg des Geschichtenerzählers durch die Stadt, bis hin zu seiner Wohnung, ereignete sich nichts. Als wären sie eine Art Zeitmaschine, werden diese vier Worte, es ereignete sich nichts, überwiegend in Situationen eingesetzt, in denen professionelle Skrupel es nicht zu lassen, eine Rauferei auf der Straße oder einen Verkehrsunfall zu erfinden, deren einziger Zweck es wäre, Lücken in der Handlung zu füllen, wo doch die Dringlichkeit besteht, zur nächsten Episode zu gelangen, oder vielleicht ungewiss ist, was mit den Gedanken, welche die Figur selbst hervorbringt, zu machen sei, vor allem dann, wenn diese nichts mit den Lebensumständen zu tun haben, in denen sie entscheiden und handeln soll. Genau in einer solchen Lage befand sich unser Lehrer und frischgebackener Videoliebhaber Tertuliano Maximo Afonso, als er im Auto nach Hause fuhr. Es ist wahr, dass er nachdachte, viel sogar und intensiv, doch seine Gedanken waren so weit entfernt von all dem, was er in den letzten vierundzwanzig Stunden durchlebt hatte, dass die Geschichte, die zu erzählen wir uns vorgenommen haben, unweigerlich eine andere würde, wollten wir seine Gedanken in unsere Erzählung aufnehmen. Dies könnte sich natürlich lohnen, oder besser gesagt, es würde sich wahrscheinlich lohnen, denn schließlich wissen wir alles über Tertuliano Maximo Afonsos Gedanken, doch das hieße, alle bisher unternommenen Anstrengungen, diese fünfzig kompakten, mühsam erarbeiteten Seiten, für null und nichtig zu erklären und an den Anfang zurückzukehren, zur ironischen, trotzigen ersten Seite, und eine bereits geleistete anständige Arbeit eines riskanten Abenteuers wegen, das nicht nur neu und anders, sondern auch höchst gefährlich wäre, auf Spiel zu setzen, denn dazu würden uns die Gedanken Tertuliano Maximo Afonsos ohne Zweifel bringen. Begnügen wir uns also mit dem Spatz in der Hand und verzichten wir auf die Taube auf dem Dach. Für mehr bleibt auch keine Zeit. Tertuliano Maximo Afonso hat soeben sein Auto eingeparkt, legt die kurze Entfernung bis zu seinem Haus zurück, in der einen Hand die Aktentasche, in der anderen die Plastiktüte, was geht ihm wohl durch den Kopf, natürlich rechnet er sich aus, wie viele Videos er bis zum Schlafengehen sichten kann, ein heikles Wort, das hat man nun davon, wenn man sich für Nebendarsteller interessiert, wäre der Typ ein Star, erschiene er gleich auf den ersten Bildern.
(Jose Saramago: Der Doppelgänger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 61 f.)
Meiner Empfindung nach schafft Jose Saramago durch diesen Einschub ein Gefühl der Gleichzeitigkeit, der Echtzeit. Der Erzähler füllt die Zeit aus, die für den Protagonisten vergeht, die für die Geschichte und damit den Leser aber nicht interessant ist, muss sich dann aber beeilen, ähnlich wie ein Sportkommentar, um den Protagonisten wieder ein zu holen, als dieser etwas tut, was interessant sein könnte. In diesem Sinne sind Einschübe wie dieser also keine Unterbrechungen der Handlung. Eine faszinierende Komposition, ein Kunstgriff, der im Laufe des Romans desöfteren angewendet wird.
Es gibt etliche weitere literarische Extravaganzen in diesem Buch, die mir Vergnügen bereiteten:
So erlaubt sich der Erzähler immer wieder Anmerkungen auf der Meta-Ebene, mittels derer er das Verhalten des Protagonisten zum Teil kommentiert, kritisiert oder erläutert bzw. deutet. Hin und wieder rechtfertigt sich der Autor auch für seine Darstellung. Es werden darüber hinaus häufig mehr oder weniger in den jeweiligen Zusammenhang passende allgemeinere, grundsätzlichere Überlegungen eingeschoben oder Mutmaßungen über alternative Handlungsoptionen im Konjunktiv angestellt, die es gäbe, wenn denn der Protagonist andere Vorerfahrungen mitbrächte, an etwas anderes gedacht hätte, eine Randbegebenheit anders verlaufen wäre…
Das Buch ist aber nicht nur stilistisch interessant, sondern auch thematisch:
Der Protagonist Tertuliano Maximo Afonso interessiert sich nämlich nur deshalb für Nebendarsteller, da er in einem Videofilm, plötzlich in einer Nebenrolle einen Schauspieler sah, der ihm selbst auf den ersten Blick verblüffend ähnlich zu sehen schien. Bei genauerer Betrachtung stellt er irritiert fest, dass dieser Schauspieler ihm nicht nur ähnlich sieht, sondern tatsächlich äußerlich zu gleichen scheint. Noch verwunderter ist er, als ihm klar wird, dass der Bart, den jener Schauspieler trägt, und der ihn zumindest etwas anders aussehen sieht, dem Bart gleicht, den er vor wenigen Jahren noch hatte – zu der Zeit, als der Film gedreht wurde. Völlig aufgewühlt von der Erkenntnis, dass es einen Doppelgänger zu geben scheint, macht er sich daran, den Namen dieses Schauspielers heraus zu finden, um mit ihm Kontakt aufnehmen zu können…
Was dann passiert, ist spannend.
Kriminalistisch, philosophisch und psychologisch interessant.
Dabei immer wieder auf unterschiedliche Weise gebrochen.
Fazit:
Sofern man literarische Extravaganzen zu schätzen weiß, eine äußerst lohnenswerte Lektüre.