Leo Perutz: Der Judas des Leonardo
Schon seit langem hatte ich vor, einen Roman von Leo Perutz zu lesen, da ich in den letzten Jahren des öfteren auf Beschreibungen seines Lebens und seines Werkes stieß, die mein Interesse weckten. Und in diesem Jahr, in dem sich sein Todestag zum 50. Mal jährt, schaffte ich es endlich, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Nach einigem Zögern entlieh ich mir zu diesem Zweck „Der Judas des Leonardo“ aus der Stadtbibliothek. Zögernd, weil auch „St.Petri-Schnee“ und „Nachts unter der steinernen Brücke“ da waren, zu denen ich schon vielversprechende Rezensionen kannte, während mir bezüglich „Der Judas des Leonardo“ zu diesem Zeitpunkt nur bekannt war, dass dieses erst posthum veröffentlicht wurde. Aber die Inhaltsbeschreibung im Umschlag dieses Buches verlockte mich, wurde dort doch behauptet, dass es sich um einen „abenteuerlichen Roman“ handele, der „in Mailand an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert“ spiele und „sich um Leonardo da Vinci, der im Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie endlich sein »Abendmahl« vollenden möchte,“ drehe. Und dann heißt es dort weiter: „In einem überaus spannenden Geschehen läßt Perutz den Leser die Suche nach »dem allerschlechtesten Menschen in ganz Mailand« miterleben – nur er könnte das Modell für Judas, den Verräter, sein.“
Nach der Lektüre muss ich dreierlei festhalten:
1. Dieses Buch hat mich fasziniert und ist wirklich lesenswert.
2. Spannend im Sinne eines Thrillers ist es indes gewiss nicht.
3. Die Inhaltsbeschreibung lässt zudem das Wesentliche unerwähnt.
Denn auch wenn das Geschehen Ende des 15. Jahrhunderts in Mailand angesiedelt ist und Leonardo da Vinci eine wichtige Rolle zukommt, lässt Perutz den Leser nicht an einer aktiven Suche Leonardos nach seinem Judas Modell teilnehmen. Vielmehr lässt Perutz das spätere Modell und Leonardo sich mehrmals im Verlauf der Geschichte knapp verpassen bzw. begegnen, aber nicht bewusst wahrnehmen:
Unten im alten Hof stand noch immer der deutsche Roßkamm. Er hielt einen ledernen Beutel in der Hand, denn man hatte ihm sein Geld nur zum Teil in guten Wechseln ausgezahlt, achtzig Dukaten hatte er in barem empfangen. Er war ein ungewöhnlich schöner Mann, so um die Vierzig, hochgewachsen, mit lebhaft blickenden Augen und einem dunklen Bart, den er auf levantinische Art geschnitten trug. Er war in guter Laune und mit der Welt, wie Gott sie geschaffen hatte, zufrieden, weil er für die beiden Pferde den Preis erhalten hatte, den zu erzielen sein Vorsatz gewesen war.
Wie er nun einen Mann von achtunggebietendem, ja beinahe furchterweckendem Aussehen über den Hof gehen und auf sich zukommen sah, dachte er zunächst, das sei einer, den der Herzog zu ihm geschickt habe, und vielleicht sei mit den Pferden etwas nicht in Ordnung. Bald aber erkannte er, daß dieser Mann in tiefen Gedanken ging und gar nicht ein bestimmtes Ziel vor Augen hatte. So trat er einen Schritt zur Seite, um ihm den Weg freizugeben, wobei er den Beutel mit dem Gelde in die Tasche seines Mantels zu zwängen suchte, und zugleich warf er mit einem erstaunt fragenden Ausdruck in seinem Gesicht den Kopf ein wenig zurück wie ein Mann, der geneigt ist, Erklärungen anzunehmen und unter Umständen Bekanntschaften zu machen.
Aber Messer Leonardo, der mit seinen Gedanken bei dem Judas seines Abendmahls war, hatte keinen Blick für ihn.
(Leo Perutz: Der Judas des Leonardo, herausgegeben von Hans-Harald Müller, Paul Zsolnay Verlag: Wien/Darmstadt 1988, S. 24 f.)
Diesem Roßkamm fällt folgend eine der Hauptrollen zu. Die Beschreibung dessen, was ihm während seines Aufenthaltes in Mailand widerfährt, welche Entscheidungen er aus welcher Geisteshaltung heraus trifft, wie er sich verhält und wodurch er sich letztlich für die zweifelhafte Ehre als Modell zu dienen ‚qualifiziert‘, nimmt den größten Teil des Buches ein.
Weitere Protagonisten, denen gewichtige Rollen zufallen, sind der geizige Wucherer und seine wunderschöne Tochter, die in ihrer Überzeichnung zum Einen als literarische Figuren klar erkennbar sind und zum Anderen eindeutige Zuordnungen erlauben.
Demzufolge handelt es sich meines Erachtens eigentlich nicht um einen historischen Roman, auch wenn das Hintergrundscenario schillernd eingefangen ist und auch wenn die geschichtlichen Fakten sauber recherchiert sein mögen, sondern eher um eine Novelle, denn im Kern geht es (wie z.B. auch bei Michael Kohlhaas oder beim Schimmelreiter) um die alte Frage: Wie wichtig wird das Festhalten an Prinzipien eingeschätzt und welchen Preis ist man bereit, dafür zu zahlen?
Spannend ist bei diesem Buch also weniger die konkrete Handlung, sondern mehr das Zusammenspiel der verschiedenen Figuren, das Nebeneinander der unterschiedlichen Auffassungen von dem, was im Leben wirklich wichtig ist, und die Frage, welche Sichtweise am Ende die Oberhand gewinnen wird – und mit welchen Folgen.
Interessant ist in diesem Buch auch die exemplarische Vorstellung unterschiedlicher Verständnisse von Kunst und der Entstehung eines Kunstwerkes.
Darüber hinaus sind die malerischen, detailreichen Beschreibungen für Leser, die Erzählungen zu schätzen wissen, ein wahrer Genuss.