Lectrix – Notizen einer Leserin

30. Juni 2006

Terry Pratchett: MacBest – Ein Roman von der bizarren Scheibenwelt

Filed under: Terry Pratchett — Lectrix @ 21:04

Mit viel Vergnügen lasen wir uns in den letzten Wochen diesen Roman von Terry Pratchett vor. Er ist hervorragend dazu geeignet vorgelesen zu werden und dabei Vergnügen zu bereiten, denn während der Duktus äußerst flüssig ist, kommt es häufig zu überraschenden Wendungen im Geschehen und stiftet so immer wieder zu gemeinsamen Schmunzeln und ab und an sogar Gelächter an.

Die eigentliche Geschichte ist schnell zusammengefasst:
König Verence wurde von Herzog Felmet ermordert, den seine ehrgeizigen Gattin zu dieser Tat anstiftete, um auf diese Weise die Herrschaft über das kleine Reich Lancre zu erringen. Einem treuen Diener gelang in jener Schreckensnacht jedoch, den Sohn des Königs sowie die Krone aus dem Schloß und zu den drei Hexen des Landes zu bringen. Obwohl diese sich zunächst nicht einmischen wollen, bringen sie den Knaben bei einem durchziehenden Wandertheater unter und verstecken die Krone in dessen Requisitentruhe…
Bereits im folgenden Jahr müssen die Hexen jedoch erkennen, wie schlecht dem Land – und das ist bei Pratchett durchaus wörtlich zu verstehen – die Herrschaft dieses neuen Herrschers gefällt, denn dieser seinerseits hasst dieses Land und insbesondere seine Bäume.
Während der Herzog durch ein von ihm beauftragtes Theaterstück erreichen will, die Hexen in Misskredit zu bringen und eine ihm günstige Darstellung der Ereignisse um den Tod seines Vorgängers zu verbreiten, beschäftigen sich die Hexen damit, ein wenig an der Zeit zu drehen und den rechtmäßigen Thronfolger zurück zu rufen.
Beider Bestrebungen kommen zusammen und so ist es natürlich ein ganz bestimmtes Wandertheater, welches sich auf den Weg nach Lancre macht…

Der Titel des Romans und die Grundkonstellation sind natürlich Macbeth entlehnt. Weitere Anspielungen, Übernahmen, Verdrehungen folgen. Vergnüglich ist das jederzeit. Fraglich bleibt nur, ob es Satire, Persiflage oder eher eine Hommage sein soll. Vermutlich alles in einem.

Die Lektüre ist deshalb insbesondere für Leser unterhaltsam, die Shakespeare kennen. Denn etliche Passagen kann man zwar auch belustigend finden, wenn man noch keine Stücke Shakespeares sah oder las. Die Absätze sind aber sicherlich wesentlich amüsanter, wenn man die Szenen bei Shakespeare kennt, auf die Terry Pratchett anspielt.

Wenn man auf den letzten Seiten angekommen ist, ist man traurig, dass es schon vorbei sein soll. Alle Protagonisten haben zwar ihren Platz gefunden, bzw. wurden ihrem verdienten Schicksal zugeführt, wie bei einem Theaterstück kann der Vorhang fallen. Aber dennoch, man würde gerne noch weiterlesen. Und man kann: Denn ‚Lords und Ladys‘ soll eine Fortsetzung dieser Geschichte sein. Ich habe dieses Buch heute aus der Stadtbibliothek entliehen…


27. Juni 2006

Midas Dekkers: Von Larven und Puppen – Soll man Kinder wie Menschen behandeln?

Filed under: Midas Dekkers — Lectrix @ 9:51

In der vorigen Woche und am letzten Wochenende habe ich immer wieder in diesem Buch von Midas Dekkers geschmökert. Ich habe es nicht von vorne nach hinten gelesen. Ich habe einfach viel darin geblättert, Stellen angetestet und von dort an – hängen bleibend – die nächsten Passagen gelesen. Deshalb gibt es bestimmt einige Abschnitte, die ich bisher noch nicht las. Außerdem gibt es Anlass sich zu wundern, denn eigentlich sieht mein Leseverhalten so nicht aus. Ich lese entweder ein Buch von vorne nach hinten – höchstens mal ein paar Seiten schneller überfliegend, um wieder zu interessanteren Zeilen zu kommen – oder gezielt einzelne über das Inhaltsverzeichnis ausgewählte Kapitel oder über das Stichwortverzeichnis ermittelte Absätze. Warum ist das bei diesem Buch anders?

Zunächst einmal lässt sich feststellen:
Ich habe das schon Mal so gemacht. Und zwar bei einem anderen Buch desselben Autoren. Midas Dekkers: An allem nagt der Zahn der Zeit – Vom Reiz der Vergänglichkeit.

Es liegt also vermutlich an dem Autoren, bzw. an seiner Art zu schreiben, seiner Art seine Bücher aufzubauen. Und damit habe ich das richtige Stichwort: ‚an seiner Art seine Bücher aufzubauen‘. Falls Midas Dekkers eine Art hat ’seine Bücher aufzubauen‘, dann besteht diese darin, keinen stringenten Aufbau erkennen zu lassen. Statt ein systematisch aufgebautes Buch zu lesen, hat man nämlich bei der Lektüre das Gefühl, einem Plauderer in die Fänge geraten zu sein. Nein, eigentlich eher in ein Gewitter von Gedankenblitzen geraten zu sein. Der Autor kommt von Hölzken aufs Stöcksken, macht dann eine Abschweifung, bringt einen anderen Vergleich, um schließlich einen Schlenker zu einem weiteren damit zusammenhängenden Aspekt zu unternehmen – und ganz nebenbei wird man dabei mit einer Unmenge von Informationen überschüttet, die faszinieren und fesseln.

Bemerkenswert ist die Lockerheit seiner Formulierungen, die Respektlosigkeit seiner Vergleiche, der zum Ausdruck kommende schwarze Humor sowie die Provokanz seiner Gedankenanstöße.

Damit konkreter zu diesem Buch. Bei ‚Von Larven und Puppen – Soll man Kinder wie Menschen behandeln?‘ geht es eigentlich um die Entwicklung des Kindes und um Erziehungsfragen, aber auch unsere Gesellschaft und unser Menschenbild. Da es ein Buch von Midas Dekkers ist, einem Biologen, handelt es darüber hinaus von allen möglichen Tieren/Pflanzen/Viren (in diesem Fall auch häufiger Insekten), ihrem Aufbau, ihrem Fortpflanzungsverhalten, ihren Ernährungsgewohnheiten, … die sich in Zusammenhang bringen lassen, mit uns Menschen, unserem Aufbau, unserem Fortpflanzungsverhalten, unseren Ernährungsgewohnheiten, bzw. sich zumindest anbieten, Vergleiche anzustellen und Schlüsse daraus zu ziehen.

Auch wenn man nicht bereit ist, sich Midas Dekkers These, dass Baby und Mensch sich ähnlich zueinander verhalten wie Raupe und Schmetterling, anzuschließen, lohnt sich die Lektüre dieses Buches. Denn es regt zum Überdenken vieler selbstverständlich genommener Verhaltensweisen und Strukturen an, ermöglicht interessante Selbsterkenntnisse und lässt einen nicht zuletzt darüber nachdenken, ob vielleicht doch etwas dran ist, an Midas Dekkers Anregung, dass man nicht versuchen sollte, Kinder zu guten Menschen (im Sinne von: Erwachsenen) zu erziehen, sondern Kindern lieber helfen sollte, gute Kinder zu sein.


22. Juni 2006

Paul Auster: Nacht des Orakels

Filed under: Paul Auster — Lectrix @ 10:10

Dieses Buch las ich in den letzten Tagen zum zweiten Mal.

Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob ich es mag.
Aber es fasziniert mich.
Ich ließ mich wieder von der Verschlungenheit der verschiedenen Ebenen gefangen nehmen, von den durch die Komposition der Ereignisse aufgeworfenen Fragen anstecken, von der Stringenz mitreißen, von der möglicherweise wirkenden Magie verzaubern.

Kann man diesen Roman beschreiben?

Man kann damit beginnen, dass es einen Ich-Erzähler gibt. Im ersten Moment dachte ich, dass dieser recht zeitnah berichten würde, aber später erfährt man, dass seit dem »Samstagmorgen im September – den ich lieber den fraglichen Morgen nenne« zwanzig Jahre vergingen. Dadurch hat man bereits zwei Ebenen: Ein Ich-Erzähler, der in Kenntnis dessen, was sich daraus später ergeben wird, von seinen damaligen Ansichten, Beweggründen und Handlungen nicht nur berichtet, sondern das Bedürfnis zu haben scheint, diese zu erklären.

An diesem »Samstagmorgen im September – den ich lieber den fraglichen Morgen nenne« erwarb der Ich-Erzähler, der seit geraumer Zeit unter einer Schreibhemmung litt, in der kleinen Schreibwarenhandlung eines Chinesen ein blau eingebundenes Notizbuch aus Portugal. Als er sich mit diesem Notizbuch, das erste Mal seit neun Monaten, an den Schreibtisch in seinem winzigen Arbeitszimmer setzt, beginnt sogleich eine Geschichte aus ihm herauszuströmen. Womit sich eine dritte Ebene eröffnet, die Ebene dessen, was in dieses blaue Notizbuch hineingeschrieben wird.

Eine weitere Ebene entsteht dadurch, dass die erste Geschichte in dem blauen Notizbuch ihrerseits ein Manuskript enthält. Der Titel dieses Manuskriptes lautet »Nacht des Orakels«. Es handelt sich um einen philosophischen Roman, dessen Inhalt nur kurz umrissen wird. Die Hauptperson ist ein Leutnant, der in Folge einer Kriegsverletzung zwar einerseits erblindet ist, andererseits aber von Vorhersehungen heimgesucht wird. Am Vorabend seiner Hochzeit die Vision empfangend, dass seine Braut sich noch vor Jahresende mit einem anderen Mann einlassen wird, nimmt er sich das Leben.

Wären die Ebenen nur als Rahmenhandlungen ineinander verschachtelt, wäre daran nichts außergewöhnlich. Paul Auster verschachtelt sie aber nicht nur. Er lässt den Eindruck entstehen, dass sie sich bedingen und beeinflussen. Dadurch hat das Buch eine recht komplexe Struktur. Aber obwohl es eine Vielzahl von Ebenen gibt und immer wieder zwischen den Ebenen gewechselt wird, bleibt es übersichtlich, denn Paul Auster beherrscht die Kunst, seine Leser durch sein Werk zu führen, und beweist dies in diesem Roman.

Das verknüpfende Element aller Ebenen ist der Ich-Erzähler. Es kann nur das berichtet werden, was ihm widerfährt. Nur sein Blickwinkel kann berücksichtigt werden. Er lässt einen aber auch Einblick nehmen in die Beweggründe, die ihn dazu bringen, gewisse Dinge zu tun bzw. zu schreiben.

Am Anfang ist das einfach, er kann problemlos erläuternd einschieben, dass er das Aussehen seiner Frau als Vorbild für das Erscheinungsbild der Frau wählt, in die sich der Protgonist der ersten Geschichte in einem Verlagsbüro auf den ersten Blick verliebt, da er seine eigene Frau in einem Verlagsbüro kennenlernte und es damals ebenfalls Liebe auf den ersten Blick war.

Auch die Wahl des Themas der ersten Geschichte, die der Ich-Erzähler in das blaue Notizbuch schreibt, kann er erklären. Bevor er mit dem Schreiben begann, berichtet der Ich-Erzähler, dachte er nämlich an ein vierzehn Tage zuvor geführtes Gespräch mit einem älteren Freund. In dem Gespräch ging es um eine Anekdote im »Malteser Falken« von Dashiell Hammett, die den perfekten Ausgangspunkt für eine sehr gute Geschichte darstellen würde. Es handelt sich um die Erzählung von dem Mann, der – knapp einem Unfalltod entronnen – erkennt, dass sein Leben nicht so läuft, wie es laufen könnte, aus seinem bisherigen Leben verschwindet und unter einer neuen Identität ein neues Leben beginnt. Im blauen Notizbuch soll diese Vorlage zu einem Roman ausgebaut werden.

Es beginnt auch recht vielversprechend. Die Geschichte ist fesselnd, etwas abgedreht, zum Teil verrückt, aber zunehmend spannend. Nach und nach wird der Hauptprotagonist in eine immer ausweglosere Situation hineingeführt, bis endlich auch der Ich-Erzähler, der Verfasser der Geschichte, einräumen muss: »Vielleicht gab es einen Ausweg, aber fürs Erste sah ich keinen. Das Einzige, was ich an diesem Morgen sehen konnte, war mein unglücklicher kleiner Held, der im Dunkel seines unterirdischen Zimmers auf Rettung wartete.«

Aber warum hat sich der Autor dabei so verrannt? Hatte er sich überhaupt verrannt oder sperrte er die Hauptperson – wenn vielleicht auch unbewusst – als Reaktion auf aktuelle Ereignisse und daraus erwachsene Befürchtungen absichtlich ein?

In dieser Richtung Beeinflussungen zu vermuten ist üblich. Ein Autor erhält Inspirationen aus seiner Umwelt und lässt dieses in sein Schreiben einfließen. Er verarbeitet die eigenen Erfahrungen in mehr oder weniger verschlüsselter Weise in seinem Werk.

Aber ist das wirklich alles?
Immer stärker wird der Eindruck, dass das Schreiben in dieses blaue Notizbuch mehr bedeutet…


Powered by WordPress