Lectrix – Notizen einer Leserin

27. Juni 2010

Hans Fallada – Jeder stirbt für sich allein

Filed under: Hans Fallada — Lectrix @ 22:30

Lange ist es her, dass ich einen Roman von Hans Fallada las,
und auf diesen wurde ich auch nur deshalb in der Bibliothek aufmerksam, weil mich das Titelbild – ein Ausschnitt aus dem Gemälde „Angst“ von Felix Nussbaum – stutzen ließ.

Jetzt überlege ich, ob und wem man dieses Buch empfehlen kann, denn es handelt sich ganz sicher um keine vergnügliche Lektüre, weil zutrifft, was Hans Fallada selbst in seinem Vorwort schreibt:

Mancher Leser wird finden, dass in diesem Buch reichlich viel gequält und gestorben wird. Der Verfasser gestattet sich darauf aufmerksam zu machen, daß in diesem Buch fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern. In diesen Kreisen wurde in den Jahren 1940-1942 und vorher und nachher ziemlich viel gestorben. […] Es hat dem Verfasser oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet.
[Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein, 3. Auflage, Berlin, Aufbau Taschenbuch Verlag 1994, S. 5]

Mehr mitgenommen als die Schilderung der offiziellen Verhöre, der in diesem Rahmen geschehenen Folterungen und der vielen billigend in Kauf genommenen Todesfälle, hat mich jedoch die Schilderung des alltäglichen Lebens mit der allgegenwärtigen Angst eines jeden vor jedem anderen aufgrund der allseits üblichen Denunziationen.

Dies gelingt Hans Fallada mit recht schlichten Worten und einfachen Satzstrukturen eindringlich zu vermitteln.

Hinzu kommt, dass dieses Buch bereits im Jahre 1946 geschrieben wurde und der Autor sich auf eine wahre Begebenheit bezieht, die er in einer Gestapo-Akte entdeckte.

Es gab tatsächlich ein Ehepaar in Berlin, welches sich zu einem ganz privaten, kleinen Widerstand entschloss und zwei Jahre lang Postkarten in Normschrift mit aufrührischen Texten beschriftete und in fremden Treppenhäusern ablegte, in der Hoffnung auch andere wachzurütteln.

Dieses Wissen macht das Buch für mich noch ergreifender.
Es macht es zu einer Art Denkmal.

Auch wenn dieses Buch dem Leser einiges zumutet,
sollte man sich darum darauf einlassen.


12. Juni 2010

Simon Winchester: Der Mann, der die Wörter liebte

Filed under: Simon Winchester — Lectrix @ 13:00

Um dieses Buch angemessen vorzustellen, habe ich mich dafür entschieden, sein Ende zu zitieren:

Das war die Geschichte eines amerikanischen Soldaten, der bei der Erschaffung des größten Wörterbuches der Welt mitwirkte. Sein Beitrag ist einzigartig, bewundernswert und unvergeßlich, doch seine Geschichte ist unsäglich traurig. Man könnte leicht vergessen, daß William Chester Minor eigentlich nur deswegen in der Lage war, all seine Zeit und Energie der Entwicklung des Oxford English Dictionary zu widmen, weil er einen grausamen und unverzeihlichen Mord begangen hatte.
Sein Opfer, George Merritt, war ein ganz gewöhnlicher, unschuldiger Bauernsohn aus Wiltshire, der nach London gezogen war, um dort sein Glück zu suchen, und der eine schwangere Frau und sieben kleine Kinder zurückließ, als er erschossen wurde. Die Familie lebte bereits in größter Armut und war bemüht, in ihrem verkommenen Winkel in einem der übelsten Viertel der viktorianischen Hauptstadt wenigstens einigermaßen in Würde durchzukommen. Nun wurde alles noch schlimmer.
[…]

Nur klägliche Überreste retten das Andenken an jene beiden Menschen, deren Schicksal auf so tragische Weise miteinander verbunden war. An William Minor erinnert lediglich ein kleiner Grabstein auf einem Friedhof in New Haven, der mitten in den Slums liegt. An George Merritt erinnert seit Jahren überhaupt nichts, außer einem Fleckchen grauen Rasens auf einem weitläufigen Gräberfeld in Südlondon. Minor hat jedoch einen Vorteil – das große Wörterbuch, die vielleicht bleibendste Erinnerung an ihn. Doch nichts gemahnt daran, daß der Mann, den er getötet hat, ebenfalls ein würdiges Andenken verdient. George Merritt ist ein vollkommen unbesungener Held.
Deshalb scheint es heute, nach mehr als 125 Jahren, angemessen, dieser schlichten Darstellung die Widmung voranzustellen, die ihr vorausgeht. Und deshalb soll dieses Buch ein bescheidener Nachruf auf George Merritt aus Wiltshire und Lambeth sein, ohne dessen viel zu frühen Tod diese Geschichte niemals erzählt worden wäre.
[Simon Winchester: Der Mann, der die Wörter liebte. Eine wahre Geschichte, aus dem Englischen von Harald Stadler, München: Albrecht Knaus Verlag 1998, S. 262f. u.265]

Dieses Zitat verdeutlicht meines Erachtens gleich mehrere Aspekte, die mir bezüglich dieses Buches bemerkenswert erscheinen:

Zunächst wird deutlich mit welcher Menschenfreundlichkeit alle Beteiligten bedacht werden – dies entspricht dem Tenor des gesamten Buches, in dem jedem Menschen mit seinen Eigenheiten Respekt und in hohem Maße Verständnis entgegen gebracht wird.

Zudem erhält man einen Eindruck von dem gehobenen aber gut lesbaren Schreibstil.

Außerdem wird erkennbar, dass es sich weder um einen reißerischen Roman noch um ein trockenes Sachbuch handelt, sondern um ein literarisches Werk, dem ein Sachthema obliegt.

Denn auch wenn das Buch ausdrücklich dem Ermordeten gewidmet wurde, nimmt dessen Lebensgeschichte darin nur wenig Raum ein. Wesentlich mehr Raum wurde der Beschreibung des Lebens des Mörders eingeräumt. Doch geht es eigentlich um etwas anderes, nämlich um die Entstehung des Oxford English Dictionary. Eine Geschichte, die durch dieses Buch interessant vermittelt wird, das Hochachtung für diese Leistung weckt.


5. Juni 2010

Mark Twain: Huckleberry Finns Abenteuer

Filed under: Mark Twain — Lectrix @ 22:00

Direkt im Anschluss an die von Andreas Nohl vorgenommene Neuübersetzung von Mark Twains „Tom Sawyers Abenteuer“ las ich die ebenfalls von Andreas Nohl vorgenommene Neuübersetzung von Mark Twains „Huckleberry Finns Abenteuer“, wobei ich feststellen musste, dass ich diese überhaupt noch nicht kannte.

Dieses Mal kamen somit Spannung, wie die einzelnen Abenteuer wohl enden mögen, zusammen mit Begeisterung hinsichtlich der Erzählweise und Erstaunen über die – trotz aller in der Geschichte enthaltener Gesellschaftskritik dennoch – ersichtlich werdende Verwobenheit Mark Twains in die gesellschaftlichen Vorurteile seiner Zeit.

So gibt es zum Einen in Kapitel 31 die phantastische Passage mit einem inneren Monolog Huckleberry Finns, die ich folgend zitiere:

Ich ging zum Floß zurück und setzte mich in das Wigwam, um nachzudenken. Aber es nutzte nichts.  Ich dachte, bis mir der Schädel brummte, aber ich fand keinen Ausweg. Nach der ganzen langen Reise und allem, was wir für diese beiden Halunken getan hatten, standen wir plötzlich vor dem Nichts, alles war zerstört und im Eimer, weil sie es fertigbrachten, Jim so reinzulegen und ihn wieder lebenslang zum Sklaven zu machen, und auch noch bei Fremden, für vierzig schmutzige Dollar.
Auf einmal dachte ich, es wäre tausendmal besser für Jim, wenn er zu Hause Sklave wäre, dort, wo seine Familie war, wenn er nun schon mal Sklave sein musste, und dass ich am besten einen Brief an Tom Sawyer schrieb und ihm sagte, er sollte Miss Watson sagen, wo er steckte. Aber ich gab den Plan bald wieder auf, aus zwei Gründen: sie war natürlich wütend und empört, dass er so niederträchtig und undankbar gewesen war, sie zu verlassen, und würde ihn sofort wieder den Fluss runter verkaufen. Und wenn nicht, so hat jeder für einen undankbaren Nigger natürlich nur Verachtung übrig und lässt es ihn die ganze Zeit spüren, und so kommt er sich gemein und entehrt vor. Und dann denkt mal an mich! Es würde sich überall rumsprechen, dass Huck Finn einem Nigger zur Freiheit verholfen hat. Und wenn ich je noch mal jemanden aus der Stadt treffen würde, dann müsste ich mich vor ihm in den Staub werfen und ihm vor Scham die Stiefel lecken. So läuft es nämlich immer: Ein Mensch stellt was Mieses an, aber dann will er dafür nicht geradestehen. Er denkt, solange er’s verbergen kann, ist es keine Schande für ihn. Und genauso war’s bei mir. Je länger ich drüber nachdachte, umso mehr nagte mein schlechtes Gewissen an mir und umso schlechter und mieser und gemeiner kam ich mir vor.  Und am Ende, als mir plötzlich klar wurde, dass mir die Hand der Vorsehung voll eine ins Gesicht schlug und mir zu verstehen gab, dass meine Schlechtigkeit die ganze Zeit oben im Himmel gesehen wurde, während ich einer armen alten Frau ihren Nigger wegnahm, die mir nie etwas getan hatte, und dass da immer Einer aufpasst, der nicht erlaubt, dass solche Schandtaten nur so weit und nicht weiter getrieben werden, da hätte es mich vor Angst fast umgehauen. Naja, ich strengte mich mächtig an, irgendwie mildernde Umstände für mich vorzubringen, ich sagte mir, ich bin schlecht erzogen worden und deshalb hab ich nicht so viel Schuld. Aber eine innere Stimme sagte: »Es gab die Sonntagsschule, die hättest du besuchen können. Und wenn du das getan hättest, dann hätten sie dir dort beigebracht, dass Leute, die so handeln wie ich an dem Nigger, zum ewigen Feuer verdammt sind.«
Es machte mir Gänsehaut. Und ich nahm mir fest vor, zu beten und zu versuchen, nicht die Sorte Junge zu sein, die ich war, sondern besser zu werden. Also kniete ich mich hin. Doch die Worte wollten nicht kommen. Warum nicht? Es hatte keinen Sinn, zu versuchen, es vor Ihm zu verbergen. Und auch vor mir nicht. Ich wusste nur zu gut, warum sie nicht kamen. Es war, weil mein Herz nicht gut war. Es war, weil ich nicht anständig war. Es war, weil ich ein doppeltes Spiel trieb. Ich tat so, als wollte ich die Sünde aufgeben, aber tief drin in mir beging ich die größte überhaupt. Ich versuchte, meinen Mund dazu zu bringen, dass er sagte, ich will das Richtige und Gute tun und mich hinsetzen und der Besitzerin des Niggers schreiben und ihr sagen, wo er steckt, aber tief in mir drin wusste ich, dass es eine Lüge war – und Er wusste das. Man kann keine Lügen beten, das habe ich herausgefunden.
So war ich voller Sorgen, so voll wie’s nur ging, und wusste nicht, was ich machen sollte. Schließlich kam mir eine Idee, und ich sagte mir, ich setze mich hin und schreibe den Brief – und dann schaue ich, ob ich beten kann. Meine Güte, es war erstaunlich, wie leicht ich mich auf einmal fühlte, leicht wie eine Feder, und alle meine Probleme waren weg. Also nahm ich mir einen Zettel und einen Stift, richtig froh und begeistert, und setzte mich hin und schrieb:

Miss Watson, Ihr abgehauner Nigger Jim ist hier unten zwei Meilen flussabwärts von Pikesville und Mr. Phelps hat ihn jetzt und gibt ihn für die Belohnung zurück, wenn Sie sie schicken. HUCK FINN

Ich fühlte mich gut und zum ersten Mal in meinem Leben von Sünde reingewaschen, und ich wusste, dass ich jetzt beten konnte. Aber ich machte es nicht gleich, sondern legte den Zettel hin und dachte erst noch mal nach. Ich dachte, was für ein Glück ich hatte, dass alles so gekommen war, und dass ich beinahe verloren gewesen und in die Hölle gekommen wäre. Und ich grübelte weiter und dachte an unsere Reise den Fluss runter. Und die ganze Zeit sah ich Jim vor mir, am Tag und in der Nacht, manchmal im Mondlicht, manchmal bei Unwetter, und wie wir weiter trieben, redeten und sangen und lachten. Doch irgendwie fiel mir nichts ein,  was mich gegen ihn einnahm, sondern nur im Gegenteil. Ich sah, wie er für mich die Wache zusätzlich zu seiner übernahm, statt mich zu rufen – so dass ich weiterschlafen konnte. Und ich sah, wie glücklich er gewesen war, als ich aus dem Nebel zurückkam. Und wie ich ihn im Sumpf wieder fand, dort oben, wo die Fehde war. Und lauter solche Dinge. Und wie er mich immer Junge nannte und mich in den Arm nahm und alles für mich tat, was ihm nur einfiel. Und dann fiel mir noch ein, wie ich ihn gerettet hatte, als ich den Männern erzählte, wir hätten die Pocken, und wie dankbar er war und sagte, das sei der beste Freund, den der alte Jim auf der Welt hatte, und der einzige, der ihm noch geblieben war. Und dann sah ich auf, und mein Blick fiel zufällig auf den Zettel.
Es war ausweglos. Ich nahm ihn in die Hand und hielt ihn vor mich hin. Ich zitterte regelrecht, weil ich wusste, dass ich mich für alle Ewigkeit zwischen zwei Dingen entscheiden musste. Ich betrachtete ihn eine Minute lang, fast mit angehaltenem Atem, und dann sagte ich:
»Na gut, dann komm ich eben in die Hölle“« und zerriss ihn.
(Mark Twain: Huckleberry Finns Abenteuer, in: Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn, hrsg. und übersetzt von Andreas Nohl, München: Carl Hanser Verlag 2010, S. 513-516)

Aber zum Anderen, wird Jim anders beschrieben als alle die Erwachsenen in diesem Buch, die weiß sind. So gibt es zwar jede Menge leicht zu betrügendes Volk, aber niemand wird als so gutmütig, abergläubisch, hilfsbereit aber dennoch völlig unselbständig wie Jim dargestellt. Das stimmt nachdenklich, wird dadurch doch wiederum ein – wenn auch sicherlich positiv gemeintes – bedenkliches Bild vom Schwarzen tradiert.

Davon abgesehen handelt es sich aber um einen wunderbare Geschichte mit vielen spannenden Episoden: sei es zu Beginn die Schilderung von Huckleberrys Flucht vor seinem Vater; sei es der Moment, als Jim von der Schlange gebissen wird; sei es die Szene, in der Huckleberry versucht, sich als Mädchen auszugeben; sei es der Moment, als die Sklavenjäger sich dem Floss nähern; sei es die Kollision mit dem Schaufelraddampfer…  Sehr amüsant und sicherlich unvergesslich werdend, die Ausführungen zu den diversen, mehr oder weniger erfolgreichen Aktionen des Königs und des Herzogs, um durch Betrug zu Geld zu kommen… Nur bezüglich der letzten Kapitel bin ich unsicher – auch wenn ich zugeben muss, dass mich dort etliche der Szenen zum Schmunzeln brachten – denn ich finde, dabei erstens zu überraschend (oder der epischen Kausalität unterworfen), dass ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt und Ort Tom Sawyer auftaucht, und zweitens, dass die immer kompliziertere Inszenierung der Befreiung Jims als Spiel der beiden Jungs, die entstandene Freundschaft zwischen Huckleberry und Jim in Frage stellt – doch vielleicht war dies gerade die Absicht Mark Twains, die Brüchigkeit von beginnenden Veränderungen aufzuzeigen, falls dem so sein sollte, ist es ihm gelungen.

So oder so, kann ich die Lektüre nur empfehlen.


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