Lectrix – Notizen einer Leserin

20. August 2012

Sten Nadolny – Weitlings Sommerfrische

Filed under: Sten Nadolny — Lectrix @ 17:08

Kürzlich schwärmte mir eine Professorin, mit der ich eine Veranstaltung vorbereitete, in der es u.a. darum ging, wie wichtig es sei, manchen Dingen Zeit zu geben, von Sten Nadolny vor. Ich reagierte darauf allerdings recht zurückhaltend, da ich zwar am Ende meiner Schulzeit und dann nochmals zu Beginn meines Studiums mit der Lektüre von „Die Entdeckung der Langsamkeit“ begann, weil mir bereits damals andere davon vorschwärmten, ich aber beide Male schon innerhalb des ersten Kapitels entnervt abbrach.

Als ich vorige Woche in der Bibliothek „Weitlings Sommerfrische“ im Regal sah, erinnerte ich mich jedoch an die Begeisterung der Professorin und beschloss Sten Nadolny mit diesem gerade erschienen Buch eine neue Chance zu geben.

Das vergangene Wochenende, für welches wir aufgrund der Wetterprognosen einen durchgängigen Aufenthalt auf dem Balkon planten, erschien mir ideale Voraussetzungen für die Lektüre zu bieten, da mich keine äußeren Termine drängen würden, ich mich also voll und ganz auf das Buch einlassen könne.

Und…
…schon ab den ersten Seiten gefiel mir der Schreibstil und die Weise, in der Innenansichten des Ich-Erzähler erfasst wurden.

Auch der Anfang der Geschichte sprach mich an:

Ein älterer Herr, bis vor kurzem als Richter in Berlin tätig, nun aber im Ruhestand, genießt einen Aufenthalt in dem Haus am Chiemsee, in dem er aufwuchs, welches aber später verkauft wurde, sodass er es nur noch jeden Sommer mietet, um dort auszuspannen. Bei einem Segeltörn gerät er in ein schnell aufziehendes Unwetter, wodurch er in akute Lebensgefahr gerät.
Ihm fällt in dieser Situation ein, dass er schon als Jugendlicher einmal eine ganz ähnliche Situation erlebte.
Er geriet als Sechszehnjähriger bei einem Segeltörn auf dem Chiemsee bei einem schnellaufziehenden Unwetter in Lebensgefahr.
Damals wurde er gerettet.
Und auch dieses Mal scheint er gerettet zu werden.
Doch seltsam, es ist sein schon lange verstorbener Vater, der ihn aus den Fluten zieht…

Wer denkt da eigentlich, der Junge oder ich? Ich! Ich bin ganz eindeutig nicht er, sondern nach wie vor der alte Mann aus Berlin, aber für andere unsichtbar, Geist ohne Physis, gekettet an einen Sechzehnjährigen aus Stöttham bei Chieming, und wir schreiben offenbar 1958. Ich kann bisher keinen anderen Weg gehen als er, sogar woanders hinschauen kann ich nur mit Mühe, und ich erlebe dieselbe Situation. Seine Gefühle und Gedanken kann ich erraten, auch ein klein wenig mitspüren, habe aber in der Hauptsache meine Gefühle, die des Achtundsechzigjährigen. Handeln kann ich nicht, nur wahrnehmen und in meinem eigenen Ich herumgrübeln, dem des Richters a.D. – wie lange aber soll das gehen? Wahrscheinlich darf ich mir meine Jugend nur noch ein paar Stunden ansehen, um mich dann ganz aufzulösen – adieu, Dr. Weitling! So sieht also eine Rückversetzng in die Jugend wirklich aus. Meine Tagträume und eine Reihe von Filmen ließen mich etwas mehr Handlungsfreiheit erwarten.
[Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische, München: Piper 2012, S. 44]

Sten Nadolny lässt den Ich-Erzähler sich schon bald staunend fragen, wie dieser Junge sich zu ihm weiterentwickeln konnte, und lädt damit den Leser dazu ein, sich selbst zu erinnern. Wenn man an seine eigene Jugend denkt, war da (wirklich) schon abzusehen, wie man sich weiterentwickeln würde und was aus einem wird? Inwieweit ist diese Wahrnehmung dadurch beeinflusst, dass man weiß, was aus einem geworden ist. Erinnert man sich darum vielleicht nur an Passendes? Hätte es andere Möglichkeiten gegeben?

Der ältere Herr scheint entsprechend nicht nur einen Teil seiner eigenen Jugend nochmals erleben/durchleben zu dürfen. Schon bald fallen ihm erste Abweichungen von seinen Erinnerungen auf:

Das Wiedersehen mit meinen Eltern bewegt mich nun doch. Gefühle scheinen sich bei Gespenstern verspätet einzustellen. Schade, dass ich die Mutter nicht umarmen kann. Vater habe ich nie umarmt, Männer taten das nicht.
Ich bin immer noch erstaunt, wie jung sie sind – das Erinnerungsbild, das sich bei mir festgesetzt hatte, war das einer Mutter von Ende fünfzig, eines Vaters von über siebzig. Auch die Betrachtung von Fotos in den Alben konnte dieses Normalbild nicht verjüngen.
Was sie sagen und tun, bestätigt, was ich von ihnen weiß. Einiges irritiert mich auch. Ich erinnere mich an einen imposanteren, eitleren Vater, einen Wortlöwen, der am liebsten sich selbst zuhörte. Vielleicht war er heute zu betroffen von meinem Abenteuer, er schien mir nachdenklich, fast melancholisch. Und Mutter scheint mir ruhiger und milder gewesen zu sein als heute, zugewandter und liebevoller. Ich weiß noch, wie sie mir damals die aufgerissene Hand verbunden hat, fürsorglich und vorsichtig. Nun, das brauchte sie heute nicht. Da ich mir die Hand nicht verletzt hatte, gab es nichts zu verbinden.
Hier unterscheiden sich also die Erinnerung und das Erleben heute. Das bedeutet, ich erinnerte mich bisher falsch! Oder aber, dass ich eben nicht einfach zurückversetzt bin, sondern dass das, was im Moment geschieht, etwas anderes ist als damals.
[Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische, München: Piper 2012, S. 54 f.]

Diese Möglichkeit der Abweichung verunsichert den auf reine Beobachtung beschränkten Alter Ego zunehmend:

Es wird Zeit, wieder einen Berichtstext zu zimmern und zugleich auswendig zu lernen. Aufschreiben kann ich ja immer noch nichts, Geister hinterlassen keine Spur.
Hier ist, was mir während der vergangenen siebeneinhalb Monate besonders auffiel:
Am 28. September 1958, dem letzten Sonntag des Monats, machte Willy eine Wanderung auf den Hochgern. Er geht fast nur auf Berge, von denen aus man den Chiemsee sehen kann. An diese Tour erinnere ich mich noch mit meinem Altersgedächtnis: Sie war herrlich. Diesmal ist sie für mich aber sehr viel unangenehmer, vor allem der Abstieg über die Staudacher Alm. Da geht man zuletzt eine Fahrstraße entlang, neben einem Bachbett mit vielen großen Steinen.
Willy hat plötzlich Lust, den Weg im Bachbett fortzusetzen, er springt von Stein zu Stein weiter ins Tal. Dieses Springen ist für mich eine Tortur: Gut hundert Mal sehe ich Willy abstürzen, weiß vollkommen sicher, daß er den nächsten Stein verfehlen wird. Ebenso sicher weiß der Junge das Gegenteil. Ich sollte ja ruhig bleiben, ich habe gut im Gedächtnis, dass damals nicht das Geringste passiert ist. Aber schon die schwache Möglichkeit, dass die Dinge jetzt auch hier eine andere Wendung nehmen macht mir Angst.
Das ist es, was junge Menschen so unerträglich macht: Von einem Bachbett voller Steine und Wildwasser nehmen sie nur wahr, wie und dass sie sicher hinüberkommen. Mein altes Hirn hingegen sieht einen Sturz nach dem anderen – Abrutschen hier, Verlust des Gleichgewichts dort, dann wieder kippt ein Stein. Jedes Mal sichere Knochenbrüche, wiederholtes Ertrinken, mal mit Schädelbruch, mal ohne. Schließlich ein furchtbar trauriges Begräbnis mit Abschiedsworten von Dekan Klein. Aber erst dann, wenn man die Leiche gefunden hat! Darüber wird es wohl Frühling werden.
Meine Erfahrung und meine Phantasie blicken so viel weiter als die von Willy! Aber er springt einfach, macht sich einen Spaß daraus, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen! Und schafft es sogar. Wirklich, unerträglich.
[Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische, München: Piper 2012, S. 136f.]

In dieser Situation kommte es also zu keiner weiteren Veränderung, aber in einigen anderen Situationen schon. Zumeist handelt es sich nur um Kleinigkeiten, unbedeutend erscheinende Abweichungen von seinen Erinnerungen, aber diese ziehen weitere, größere Veränderungen nach sich, so dass man sich bald zu fragen beginnt, ob es die Zukunft, aus der Weitling kam, überhaupt noch geben wird – ob es also eine Zeit gibt, in die er zurückkehren kann, oder ob er weiter als Zaungast diesem alternativen Verlauf seines Lebens zuschauen muss…

Mit Interesse habe ich weitergelesen.

Das Ende des Buches erscheint mir zwar nicht ganz stimmig – wie soll es aber auch, bei dem geschilderten Geschehen sind Zeitparadoxien wohl kaum zu vermeiden -, die von Sten Nadolny gewählte Lösung gefällt mir dennoch. Sie bietet auf jeden Fall einen versöhnlichen Abschluss.

Ich bin nun froh, dass ich Sten Nadolny eine neue Chance gab und dieses Buch las. Vielleicht wage ich mich demnächst sogar nochmals an „Die Entdeckung der Langsamkeit“.


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