Lectrix – Notizen einer Leserin

18. Februar 2008

Jose Saramago: Eine Zeit ohne Tod

Filed under: Jose Saramago — Lectrix @ 22:32

… und wieder hat mich ein Buch von José Saramago überzeugt.

Erneut mit vielen Kommas, zum Teil recht eigenwilligem Satzbau und kaum Absätzen – dafür aber mit der Bereitschaft konsequenter weiterzudenken als man dies gemeinhin tut:

Der Silvesterabend hatte nicht den üblichen unheilvollen Rattenschwanz von Todesfällen nach sich gezogen, es war, als hätte die alte Atropos mit ihrem gefletschten Pferdegebiss beschlossen, ihre Schere für einen Tag ruhen zu lassen. Blut floss dennoch, und nicht zu knapp. Verwirrt, bestürzt, ihren Brechreiz mühsam unterdrückend zogen die Feuerwehrleute menschliche Körper aus den Trümmern, die nach der mathematischen Logik von Zusammenstößen mausetot hätten sein müssen, trotz der Schwere ihrer Verletzungen und der erlittenen Traumata jedoch noch immer am Leben waren und mit herzzerreißendem Sirenengeheul in die Krankenhäuser eingeliefert wurden. Keiner dieser Menschen sollte auf dem Weg dorthin sterben, und alle sollten die pessimistischen ärztlichen Prognosen widerlegen. Der arme Teufel hat keine Chance, man sollte ihn gar nicht erst operieren, wie beispielsweise der Chirurg zu der Krankenschwester sagte, während diese ihm den Mundschutz umband. Und tatsächlich hätte der Arme am Vortag vielleicht nicht gerettet werden können, doch an diesem Tag weigerte sich das Unfallopfer ganz entschieden zu sterben. Und was hier geschah, das geschah im ganzen Land.“
(José Saramago: Eine Zeit ohne Tod, übersetzt von Marianne Gareis, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 11 f.)

Anstatt sich also unnötig mit der Freude aufzuhalten, die die Menschen empfinden könnten, wenn sie feststellen, dass sie nicht mehr sterben, wendet sich José Saramago direkt den Problemen zu, die mit den ausbleibenden Todesfällen auf die Gesellschaft dieses Landes zu kommen: die Erbfolge gerät in Verzug, wenn die Königinmutter nicht stirbt + Krankenhäuser füllen sich, in Anbetracht der Akkumulation Todkranker und Schwerstverletzter + Familienangehörigen stehen nicht enden wollende Pflegezeiten der Alten bevor + den in der Beerdigungsbranche Beschäftigten (Totengräber, Sargtischler, Leichenbestatter) droht Arbeitslosigkeit+ Lebens- und Rentenversicherungen müssen sich etwas einfallen lassen und nicht zuletzt gerät die Kirche in eine existentielle Sinnkrise …

Welche Lösungen José Saramago Kirche, Versicherungen, Politik und Maphia (sic!) einfallen lässt, soll hier natürlich nicht vorab verraten werden. Sie spiegeln allerdings deutlich wider für wie korrupt und menschenverachtend er diese hält.

Verraten werden muss jedoch, dass José Saramago in diesem Fall nicht nur konsequent von einem einfachen Grundgedanken ausgehend – in „Stadt der Blinden“ „Alle Menschen werden blind.“ hier nun „Kein Mensch stirbt mehr.“ – ein Gedankenexperiment mit allen sich ergebenden Konsequenzen durchdenkt, sondern in diesem Roman auch noch ins Metaphysische / Phantastische wechselt und tod (sic!) personifiziert selbst auftreten und ihr Handeln begründen lässt.

Dadurch wird der Kreis derjenigen, für die dieses Buch zu empfehlen ist, sicherlich noch weiter eingeschränkt.

Mir hat es aber ausgesprochen gut gefallen, inbesondere da José Saramago nicht nur kritisch Gesellschaft und Politik vorführt sowie Respektlosigkeit religiösen Überzeugungen gegenüber an den Tag legt, sondern darüber hinaus auch eine ganze Menge Humor, eine herrliche Stelle voller Selbstironie und sogar eine gute Portion Romantik einfließen lässt.


25. August 2007

Jose Saramago: Das Zentrum

Filed under: Jose Saramago — Lectrix @ 23:00

Da seit der Lektüre des letzten Romans von Jose Saramago („Der Doppelgänger„) tatsächlich bereits wieder über ein halbes Jahr vergangen war, freute ich mich sehr, als ich dieses Buch im Regal der Bibliothek vorfand, auf welches ich schon geraume Zeit lauerte.

Wieder musste ich mich in den Schreibstil von Jose Saramago zunächst einlesen. Er schreibt schließlich auch diesen Roman unter äußerst sparsamem Einsatz von Punkten und Absätzen und völligem Verzicht auf Anführungszeichen als Kennzeichen wörtlicher Rede. Doch auch in diesem Fall lohnt es sich meiner Meinung nach, sich darauf einzulassen.

Jose Saramago offenbart in diesem Buch sicherlich deutlicher als in den anderen Büchern, die ich bereits von ihm las („Der Doppelgänger“ und „Stadt der Blinden„), seine kommunistische Grundeinstellung. Er bezieht dabei auf für ihn typische Art Stellung, wie dieser beispielhafte Auszug verdeutlichen soll:

Die Gründe zur Klage über die unbarmherzige Geschäftspolitik des Zentrums, wie Cipriano Algor sie empfand, wurden in dieser Erzählung bereits ausführlich aus dem Blickwinkel einer offenen Klassensympathie dargelegt, ohne dass dadurch, wie wir meinen, der strenge Verzicht auf eine Wertung aufgegeben wurde, sie dürfen jedoch nicht vergessen machen, auch wenn wir dadurch riskieren, den hitzigen Konflikt in der historischen Beziehung zwischen Kapital und Arbeit wieder anzufachen, sie dürfen also nicht vergessen machen, wie wir bereits bemerkten, das besagter Cipriano Algor auch einen Teil Eigenschuld an dem Ganzen trägt, dabei besteht seine erste, naive, unerfahrene Schuld, die jedoch, wie so oft bei Unerfahrenheit und Naivität, bösartige Wurzel weiterer Schuld ist, darin, dass er dachte, bestimmte Geschmacksrichtungen und Bedürfnisse der Zeitgenossen seines Großvaters, des Gründers der Töpferei, seien, was Keramikprodukte betrifft, per omnia saecula saeculorum oder zumindest zeit seines eigenen Lebens unveränderlich, was bei genauerer Betrachtung auf dasselbe hinausläuft. Wir haben gesehen, auf welch höchst handwerkliche Art hier der Ton geknetet wird, haben bereits gesehen, wie rustikal und fast primitiv diese Drehscheiben sind, und wir haben gesehen, welch unzulässige Merkmale von Altertümlichkeit der Ofen dort draußen aufweist, in einer modernen Zeit, die trotz der empörenden Mängel und Unduldsamkeiten, die sie kennzeichnen, so gnädig war, bis heute die Existenz einer Töpferei wie dieser zuzulassen, wo doch ein Zentrum wie jenes existiert.
(Jose Saramago: Das Zentrum, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 164)

Es geht in diesem Buch aber natürlich nicht nur um den Konflikt zwischen dem alten Töpfer und dem modernen Zentrum. Auch wenn man im Laufe der Lektüre mehr über die althergebrachten Methoden des Töpferns und seiner Herausforderungen erfährt, als man jemals wissen wollte, handelt es sich dabei letztlich doch wieder um eine Art Parabel.

Eine Parabel, die verdeutlichen soll, was im Leben wirklich wichtig ist,
gleichermaßen den Wert der menschlichen Schöpferkraft, der Liebe sowie des Zusammenhalts preist
– und sich in gewissem Sinne auch wieder mit dem Thema „Blindheit“ auseinandersetzt.

Ich fand die Lektüre lohnend.


8. Dezember 2006

Jose Saramago: Der Doppelgänger

Filed under: Jose Saramago — Lectrix @ 23:45

Dieser Roman von Jose Saramago hat mir sehr gefallen.

Durch das Buch Die Stadt der Blinden war ich bereits mit der ungewöhnlichen Interpunktion dieses Autors, den unendlichen Absätzen sowie den ausbleibenden Abgrenzungen der Beträge verschiedener Gesprächsteilnehmer vertraut – wusste also schon vorher, was auf mich zu kommt, konnte mich darauf einstellen und somit die Lektüre von der ersten Seite an genießen.

Und die Lektüre ist ein wahrer Genuss.

Allerdings darf man es nicht zu eilig mit dem Fortgang der Geschichte haben. Stattdessen sollte man sich auf die Art und Weise der Erzählung einlassen können und sich daran erfreuen, denn Jose Saramago erlaubt sich immer wieder Einschübe, die einerseits natürlich die Geschichte, im Sinne des Fortgangs der Handlung, zu unterbrechen scheinen, andererseits aber gerade den besonderen Reiz dieses Buches ausmachen und für die Schaffung der Atmosphäre unentbehrlich sind.

Ein Beispiel:

Für den Berichterstatter oder den Erzähler, denn höchstwahrscheinlich bevorzugt man eine Figur mit akademischen Siegel, wäre es an diesem Punkt ein Leichtes zu schreiben, auf dem Heimweg des Geschichtenerzählers durch die Stadt, bis hin zu seiner Wohnung, ereignete sich nichts. Als wären sie eine Art Zeitmaschine, werden diese vier Worte, es ereignete sich nichts, überwiegend in Situationen eingesetzt, in denen professionelle Skrupel es nicht zu lassen, eine Rauferei auf der Straße oder einen Verkehrsunfall zu erfinden, deren einziger Zweck es wäre, Lücken in der Handlung zu füllen, wo doch die Dringlichkeit besteht, zur nächsten Episode zu gelangen, oder vielleicht ungewiss ist, was mit den Gedanken, welche die Figur selbst hervorbringt, zu machen sei, vor allem dann, wenn diese nichts mit den Lebensumständen zu tun haben, in denen sie entscheiden und handeln soll. Genau in einer solchen Lage befand sich unser Lehrer und frischgebackener Videoliebhaber Tertuliano Maximo Afonso, als er im Auto nach Hause fuhr. Es ist wahr, dass er nachdachte, viel sogar und intensiv, doch seine Gedanken waren so weit entfernt von all dem, was er in den letzten vierundzwanzig Stunden durchlebt hatte, dass die Geschichte, die zu erzählen wir uns vorgenommen haben, unweigerlich eine andere würde, wollten wir seine Gedanken in unsere Erzählung aufnehmen. Dies könnte sich natürlich lohnen, oder besser gesagt, es würde sich wahrscheinlich lohnen, denn schließlich wissen wir alles über Tertuliano Maximo Afonsos Gedanken, doch das hieße, alle bisher unternommenen Anstrengungen, diese fünfzig kompakten, mühsam erarbeiteten Seiten, für null und nichtig zu erklären und an den Anfang zurückzukehren, zur ironischen, trotzigen ersten Seite, und eine bereits geleistete anständige Arbeit eines riskanten Abenteuers wegen, das nicht nur neu und anders, sondern auch höchst gefährlich wäre, auf Spiel zu setzen, denn dazu würden uns die Gedanken Tertuliano Maximo Afonsos ohne Zweifel bringen. Begnügen wir uns also mit dem Spatz in der Hand und verzichten wir auf die Taube auf dem Dach. Für mehr bleibt auch keine Zeit. Tertuliano Maximo Afonso hat soeben sein Auto eingeparkt, legt die kurze Entfernung bis zu seinem Haus zurück, in der einen Hand die Aktentasche, in der anderen die Plastiktüte, was geht ihm wohl durch den Kopf, natürlich rechnet er sich aus, wie viele Videos er bis zum Schlafengehen sichten kann, ein heikles Wort, das hat man nun davon, wenn man sich für Nebendarsteller interessiert, wäre der Typ ein Star, erschiene er gleich auf den ersten Bildern.
(Jose Saramago: Der Doppelgänger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 61 f.)

Meiner Empfindung nach schafft Jose Saramago durch diesen Einschub ein Gefühl der Gleichzeitigkeit, der Echtzeit. Der Erzähler füllt die Zeit aus, die für den Protagonisten vergeht, die für die Geschichte und damit den Leser aber nicht interessant ist, muss sich dann aber beeilen, ähnlich wie ein Sportkommentar, um den Protagonisten wieder ein zu holen, als dieser etwas tut, was interessant sein könnte. In diesem Sinne sind Einschübe wie dieser also keine Unterbrechungen der Handlung. Eine faszinierende Komposition, ein Kunstgriff, der im Laufe des Romans desöfteren angewendet wird.

Es gibt etliche weitere literarische Extravaganzen in diesem Buch, die mir Vergnügen bereiteten:
So erlaubt sich der Erzähler immer wieder Anmerkungen auf der Meta-Ebene, mittels derer er das Verhalten des Protagonisten zum Teil kommentiert, kritisiert oder erläutert bzw. deutet. Hin und wieder rechtfertigt sich der Autor auch für seine Darstellung. Es werden darüber hinaus häufig mehr oder weniger in den jeweiligen Zusammenhang passende allgemeinere, grundsätzlichere Überlegungen eingeschoben oder Mutmaßungen über alternative Handlungsoptionen im Konjunktiv angestellt, die es gäbe, wenn denn der Protagonist andere Vorerfahrungen mitbrächte, an etwas anderes gedacht hätte, eine Randbegebenheit anders verlaufen wäre…

Das Buch ist aber nicht nur stilistisch interessant, sondern auch thematisch:
Der Protagonist Tertuliano Maximo Afonso interessiert sich nämlich nur deshalb für Nebendarsteller, da er in einem Videofilm, plötzlich in einer Nebenrolle einen Schauspieler sah, der ihm selbst auf den ersten Blick verblüffend ähnlich zu sehen schien. Bei genauerer Betrachtung stellt er irritiert fest, dass dieser Schauspieler ihm nicht nur ähnlich sieht, sondern tatsächlich äußerlich zu gleichen scheint. Noch verwunderter ist er, als ihm klar wird, dass der Bart, den jener Schauspieler trägt, und der ihn zumindest etwas anders aussehen sieht, dem Bart gleicht, den er vor wenigen Jahren noch hatte – zu der Zeit, als der Film gedreht wurde. Völlig aufgewühlt von der Erkenntnis, dass es einen Doppelgänger zu geben scheint, macht er sich daran, den Namen dieses Schauspielers heraus zu finden, um mit ihm Kontakt aufnehmen zu können…

Was dann passiert, ist spannend.
Kriminalistisch, philosophisch und psychologisch interessant.
Dabei immer wieder auf unterschiedliche Weise gebrochen.

Fazit:
Sofern man literarische Extravaganzen zu schätzen weiß, eine äußerst lohnenswerte Lektüre.


28. Juli 2006

Jose Saramago: Die Stadt der Blinden

Filed under: Jose Saramago — Lectrix @ 16:40

Gewiss ein beklemmendes Buch.
Sicherlich eine lesenswerter Roman.
Bestimmt eine Geschichte, die ernüchtert.
Auf jeden Fall ein Werk, dass zum Nachdenken anregt.

Anfangs störte mich der eigenwillige Umgang des Autoren mit der Interpunktion. Es werden recht wenige Punkte verwendet, dafür gibt es umso mehr Kommas. Passend dazu sind auch Absätze in diesem Buch kaum zu finden, alle Seiten sind fast komplett durchgeschrieben. Nichts hemmt somit den Lesefluss, nichts unterbricht den Gedankengang – wenn man sich erstmal auf diesen Schreibstil eingelassen und daran gewöhnt hat.

Insbesondere bei der Wiedergabe von Dialogen irritiert das Fehlen von Anführungszeichen, Satzendzeichen sowie trennenden Absätzen. Dies zwingt zum sehr bewussten Lesen. Wenn man den Anschluss nicht verlieren will, darf man also nicht einfach über die Zeilen huschen, jedes Wort will wahrgenommen werden. Dadurch kann man dem, was Jose Saramago so schonungslos darstellt, nicht entfliehen. Entweder man liest diesen Roman also ganz oder gar nicht.
Ihn ganz zu lesen lohnt.

Es beginnt mit einer zunächst ganz alltäglich wirkenden Situation, die sich aber sehr schnell, als gar nicht alltäglich erweist:

Endlich leuchtete das grüne Licht auf, die Autos fuhren abrupt an, doch sofort bemerkte man, daß nicht alle zugleich losgefahren waren. Das erste in der mittleren Reihe steht, da muß es irgendein technisches Problem geben, vielleicht ist das Gaspedal locker, oder die Schaltung sitzt fest, oder etwas am hydraulischen System ist defekt, die Bremsen sind blockiert, ein Fehler in der Stomversorgung, oder es ist einfach das Benzin ausgegangen, es wäre nicht das erste Mal, daß so etwas vorkommt. Die Gruppe von Fußgängern, die sich erneut auf dem Bürgersteig angesammelt hat, sieht, wie der Fahrer des stehenden Wagens hinter der Windschutzscheibe aufgeregt gestikuliert, während die Autos hinter ihm wütend hupen. Einige Fahrer sind schon auf die Straße gesprungen, bereit, das stehengebliebene Auto auf die Seite zu schieben, damit es den Verkehr nicht mehr behindert, sie klopfen heftig gegen die geschlossenen Scheiben, der Mann im Auto wendet ihnen das Gesicht zu, zur einen, dann zur anderen Seite, man sieht, daß er etwas ruft, an der Bewegung seiner Lippen sieht man, daß er ein Wort wiederholt, nicht eins, nein, in Wirklichkeit sind es drei, wie man erfahren wird, wenn endlich jemand die Tür öffnen kann, Ich bin blind.
(Jose Saramago: Die Stadt der Blinden, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 9 f.)

Dies ist der Erste, der an der seltsamen Blindheit erkrankt, die ohne jegliche Vorzeichen ganz abrupt auftritt und sich epidemieartig auszubreiten beginnt. Jose Saramago nennt ihn im weiteren Verlauf des Buches einfach „den ersten Blinden“. Der Mann, der ihn nach Hause fuhr und ihm anschließend seinen Wagen klaute, ist der zweite. Er wird folgend als „der Dieb“ bezeichnet. Auch „der Arzt“, ein Augenarzt, den er zur Untersuchung seines Leidens aufsuchte, sowie „der kleine schielende Junge“ und „die junge Frau mit der dunklen Brille“, die sich im Wartezimmer befanden, erblinden bald darauf. Zusammen mit „der Frau des Arztes“, die vorgibt ebenfalls erblindet zu sein, um bei ihrem Mann bleiben zu können, sind dies die ersten, die von der Regierung unter Quarantäne gestellt werden, um die Epidemie einzudämmen und die restliche Gesellschaft vor der Krankheit zu schützen.

Eine angemessene Reaktion, sollte man meinen. Ich, Illusionistin, ging dabei zunächst selbstverständlich davon aus, dass man die Betroffenen in eine Art Krankenhaus bringen und von Ärzten in Schutzkleidung untersuchen und von Personal in Schutzkleidung versorgen lassen würde. Jose Saramago hingegen beschreibt, dass sie zu einer stillgelegten und heruntergekommenen Irrenanstalt gebracht werden. Diese ist von Soldaten umstellt, die jeden Kontakt zur Außenwelt verhindern sollen. Lediglich regelmäßig mit Lebensmittelkisten versorgt, sollen sie selbst ’sehen‘, wie sie klarkommen. Man bekommt in diesem Buch absolut ernüchternd vorgeführt, wie zynisch Entscheider und wie schnell in Krisen Menschenrechte hinfällig werden können…

Das Gesundheitsministerium hatte das Verteidigungsministerium benachrichtigt, Wir werden vier Busse voll schicken, Und wie viele sind das dann, Ungefähr zweihundert, Und wo sollen wir all diese Leute unterbringen, nach unseren Informationen sind nur drei Säle im rechten Flügel für die Blinden bestimmt, die vollständige Belegung wurde mit einhundertzwanzig angegeben, und dort sind schon sechzig oder siebzig, die zwölf, die wir töten mußten, nicht mitgerechnet, Da gibt es Abhilfe, es werden alle Säle belegt, Dann werden die Infizierten in direkten Kontakt mit den Blinden kommen, Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese früher oder später ebenfalls erblinden werden, so wie die Lage übrigens ist, vermute ich, daß wir alle schon infiziert sind, mit Sicherheit gibt es nicht einen einzigen Menschen, der nicht in Sichtweite eines Blinden gewesen ist, Wenn ein Blinder nicht sehen kann, so frage ich mich, wie kann er dann über den Blick die Krankheit übertragen, Herr General, dies muß die logischste Krankheit der Welt sein, das Auge, das blind ist, überträgt die Blindheit auf das Auge, das sieht, nichts einfacher als das, Wir haben einen Oberst, der glaubt, die Lösung liege darin, daß wir die Blinden töten, wenn sie auftauchen, Tote anstelle von Blinden würden nicht viel an der Situation ändern, Blind sein bedeutet nicht tot sein, Ja, aber tot sein bedeutet blind zu sein, Gut dann sind es etwa zweihundert, Ja, Und was machen wir mit den Fahrern der Busse, Stecken Sie sie auch dorthin.
(Jose Saramago: Die Stadt der Blinden, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 135 f.)

Immer mehr wird man im Verlauf der Geschichte mit der Frage konfrontiert, ob das von Jose Saramago geschilderte egoistische Verhalten nun un-menschlich oder leider nur allzu-menschlich ist. Beginnend mit dem kleinen Vergehen, dass jemand sich nicht mehr bemüht blind den weiten Weg zur Toilette zu ertasten, sondern sich einfach gleich im Korridor erleichtert, weil es ja keiner sieht. Bis zu denjenigen, denen es gelingt sämtliche innerhalb der Irrenanstalt verfügbaren Lebensmittel an sich zu bringen, und damit die Frauen zwingen, sich ihnen hinzugeben, um sich und den anderen ihres Schlafsaales etwas zu Essen zu verschaffen. Wie zivilisiert sind wir eigentlich wirklich, ist die Frage, die hinter allem immer wieder auftaucht. Wie leicht verfallen wir wieder ins Barbarentum? Unterscheiden wir uns wirklich von den Tieren? Wenn ja, nur dadurch, dass wir uns noch animalischer verhalten?

Dadurch, dass in dem ganzen Roman kein einziger Name Verwendung findet – weder für die Stadt noch für eine der Personen – ensteht einerseits eine gewisse Distanz. Andererseits kann man es so nicht einfach einem anderen, fernen Land zuordnen. Mittels dieses Kniffs wird also hervorragend verdeutlicht, dass es jederzeit an jedem Ort jedem passieren könnte.
Man kann diesen Roman deshalb sicherlich als philosophische Studie auffassen, als konsequent immer weiter gedachtes Gedankenspiel…
Und auch wenn Jose Saramago es leider für angebracht zu halten schien, die Handlung unbedingt mit einem Happy End zu versehen:
Die von ihm aufgeworfenen Fragen bleiben bestehen.


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