Gewiss ein beklemmendes Buch.
Sicherlich eine lesenswerter Roman.
Bestimmt eine Geschichte, die ernüchtert.
Auf jeden Fall ein Werk, dass zum Nachdenken anregt.
Anfangs störte mich der eigenwillige Umgang des Autoren mit der Interpunktion. Es werden recht wenige Punkte verwendet, dafür gibt es umso mehr Kommas. Passend dazu sind auch Absätze in diesem Buch kaum zu finden, alle Seiten sind fast komplett durchgeschrieben. Nichts hemmt somit den Lesefluss, nichts unterbricht den Gedankengang – wenn man sich erstmal auf diesen Schreibstil eingelassen und daran gewöhnt hat.
Insbesondere bei der Wiedergabe von Dialogen irritiert das Fehlen von Anführungszeichen, Satzendzeichen sowie trennenden Absätzen. Dies zwingt zum sehr bewussten Lesen. Wenn man den Anschluss nicht verlieren will, darf man also nicht einfach über die Zeilen huschen, jedes Wort will wahrgenommen werden. Dadurch kann man dem, was Jose Saramago so schonungslos darstellt, nicht entfliehen. Entweder man liest diesen Roman also ganz oder gar nicht.
Ihn ganz zu lesen lohnt.
Es beginnt mit einer zunächst ganz alltäglich wirkenden Situation, die sich aber sehr schnell, als gar nicht alltäglich erweist:
Endlich leuchtete das grüne Licht auf, die Autos fuhren abrupt an, doch sofort bemerkte man, daß nicht alle zugleich losgefahren waren. Das erste in der mittleren Reihe steht, da muß es irgendein technisches Problem geben, vielleicht ist das Gaspedal locker, oder die Schaltung sitzt fest, oder etwas am hydraulischen System ist defekt, die Bremsen sind blockiert, ein Fehler in der Stomversorgung, oder es ist einfach das Benzin ausgegangen, es wäre nicht das erste Mal, daß so etwas vorkommt. Die Gruppe von Fußgängern, die sich erneut auf dem Bürgersteig angesammelt hat, sieht, wie der Fahrer des stehenden Wagens hinter der Windschutzscheibe aufgeregt gestikuliert, während die Autos hinter ihm wütend hupen. Einige Fahrer sind schon auf die Straße gesprungen, bereit, das stehengebliebene Auto auf die Seite zu schieben, damit es den Verkehr nicht mehr behindert, sie klopfen heftig gegen die geschlossenen Scheiben, der Mann im Auto wendet ihnen das Gesicht zu, zur einen, dann zur anderen Seite, man sieht, daß er etwas ruft, an der Bewegung seiner Lippen sieht man, daß er ein Wort wiederholt, nicht eins, nein, in Wirklichkeit sind es drei, wie man erfahren wird, wenn endlich jemand die Tür öffnen kann, Ich bin blind.
(Jose Saramago: Die Stadt der Blinden, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 9 f.)
Dies ist der Erste, der an der seltsamen Blindheit erkrankt, die ohne jegliche Vorzeichen ganz abrupt auftritt und sich epidemieartig auszubreiten beginnt. Jose Saramago nennt ihn im weiteren Verlauf des Buches einfach „den ersten Blinden“. Der Mann, der ihn nach Hause fuhr und ihm anschließend seinen Wagen klaute, ist der zweite. Er wird folgend als „der Dieb“ bezeichnet. Auch „der Arzt“, ein Augenarzt, den er zur Untersuchung seines Leidens aufsuchte, sowie „der kleine schielende Junge“ und „die junge Frau mit der dunklen Brille“, die sich im Wartezimmer befanden, erblinden bald darauf. Zusammen mit „der Frau des Arztes“, die vorgibt ebenfalls erblindet zu sein, um bei ihrem Mann bleiben zu können, sind dies die ersten, die von der Regierung unter Quarantäne gestellt werden, um die Epidemie einzudämmen und die restliche Gesellschaft vor der Krankheit zu schützen.
Eine angemessene Reaktion, sollte man meinen. Ich, Illusionistin, ging dabei zunächst selbstverständlich davon aus, dass man die Betroffenen in eine Art Krankenhaus bringen und von Ärzten in Schutzkleidung untersuchen und von Personal in Schutzkleidung versorgen lassen würde. Jose Saramago hingegen beschreibt, dass sie zu einer stillgelegten und heruntergekommenen Irrenanstalt gebracht werden. Diese ist von Soldaten umstellt, die jeden Kontakt zur Außenwelt verhindern sollen. Lediglich regelmäßig mit Lebensmittelkisten versorgt, sollen sie selbst ’sehen‘, wie sie klarkommen. Man bekommt in diesem Buch absolut ernüchternd vorgeführt, wie zynisch Entscheider und wie schnell in Krisen Menschenrechte hinfällig werden können…
Das Gesundheitsministerium hatte das Verteidigungsministerium benachrichtigt, Wir werden vier Busse voll schicken, Und wie viele sind das dann, Ungefähr zweihundert, Und wo sollen wir all diese Leute unterbringen, nach unseren Informationen sind nur drei Säle im rechten Flügel für die Blinden bestimmt, die vollständige Belegung wurde mit einhundertzwanzig angegeben, und dort sind schon sechzig oder siebzig, die zwölf, die wir töten mußten, nicht mitgerechnet, Da gibt es Abhilfe, es werden alle Säle belegt, Dann werden die Infizierten in direkten Kontakt mit den Blinden kommen, Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese früher oder später ebenfalls erblinden werden, so wie die Lage übrigens ist, vermute ich, daß wir alle schon infiziert sind, mit Sicherheit gibt es nicht einen einzigen Menschen, der nicht in Sichtweite eines Blinden gewesen ist, Wenn ein Blinder nicht sehen kann, so frage ich mich, wie kann er dann über den Blick die Krankheit übertragen, Herr General, dies muß die logischste Krankheit der Welt sein, das Auge, das blind ist, überträgt die Blindheit auf das Auge, das sieht, nichts einfacher als das, Wir haben einen Oberst, der glaubt, die Lösung liege darin, daß wir die Blinden töten, wenn sie auftauchen, Tote anstelle von Blinden würden nicht viel an der Situation ändern, Blind sein bedeutet nicht tot sein, Ja, aber tot sein bedeutet blind zu sein, Gut dann sind es etwa zweihundert, Ja, Und was machen wir mit den Fahrern der Busse, Stecken Sie sie auch dorthin.
(Jose Saramago: Die Stadt der Blinden, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 135 f.)
Immer mehr wird man im Verlauf der Geschichte mit der Frage konfrontiert, ob das von Jose Saramago geschilderte egoistische Verhalten nun un-menschlich oder leider nur allzu-menschlich ist. Beginnend mit dem kleinen Vergehen, dass jemand sich nicht mehr bemüht blind den weiten Weg zur Toilette zu ertasten, sondern sich einfach gleich im Korridor erleichtert, weil es ja keiner sieht. Bis zu denjenigen, denen es gelingt sämtliche innerhalb der Irrenanstalt verfügbaren Lebensmittel an sich zu bringen, und damit die Frauen zwingen, sich ihnen hinzugeben, um sich und den anderen ihres Schlafsaales etwas zu Essen zu verschaffen. Wie zivilisiert sind wir eigentlich wirklich, ist die Frage, die hinter allem immer wieder auftaucht. Wie leicht verfallen wir wieder ins Barbarentum? Unterscheiden wir uns wirklich von den Tieren? Wenn ja, nur dadurch, dass wir uns noch animalischer verhalten?
Dadurch, dass in dem ganzen Roman kein einziger Name Verwendung findet – weder für die Stadt noch für eine der Personen – ensteht einerseits eine gewisse Distanz. Andererseits kann man es so nicht einfach einem anderen, fernen Land zuordnen. Mittels dieses Kniffs wird also hervorragend verdeutlicht, dass es jederzeit an jedem Ort jedem passieren könnte.
Man kann diesen Roman deshalb sicherlich als philosophische Studie auffassen, als konsequent immer weiter gedachtes Gedankenspiel…
Und auch wenn Jose Saramago es leider für angebracht zu halten schien, die Handlung unbedingt mit einem Happy End zu versehen:
Die von ihm aufgeworfenen Fragen bleiben bestehen.