Lectrix – Notizen einer Leserin

19. Januar 2013

Paullina Simons – Die Liebenden von Leningrad

Filed under: Paullina Simons — admin @ 23:30

Der Roman „Die Liebenden von Leningrad“ mit dem Untertitel „Tatiana und Alexander – eine unvergessliche Liebe“ von Paullina Simons wurde mir mit der Frage geliehen, ob ich eigentlich auch „schnulzige Wälzer“ mögen würde. Ich reagierte darauf zwar etwas zurückhaltend, nahm das dicke Buch aber dennoch in die Hand und überflog die ersten Seiten: Der Schreibstil machte einen angenehm lesbaren Eindruck und so nahm ich es mit.

Noch am gleichen Abend las ich das Buch dann probehalber an und der Anfang gefiel mir gut. Der Autorin gelingt es im ersten Kapitel nicht nur, nebenbei Einblicke in die Lebensumstände in Russland Mitte des 20. Jahrhunderts zu vermitteln, sondern auch überzeugend, die so unterschiedlichen Reaktionen auf die Radiomeldung bezüglich des Angriffes der Deutschen, von Seiten der verschiedenen Generationen wiederzugeben und nachvollziehbar zu machen:

Ihr Vater sagte gar nichts, sondern stellte das Radio an.
In dem langen, schmalen Zimmer gab es das Doppelbett von Tatjana und Dascha, ein Sofa, auf dem Papa und Mama schliefen, und ein niedriges Eisenbett für Tatjanas Zwillingsbruder Pascha. Es stand am Fußende des Bettes der Mädchen und Pascha bezeichnete sich selbst immer als ihren kleinen Schoßhund.
Tatjanas Großeltern, Babuschka und Deda, wohnten im Zimmer nebenan, das mit ihrem durch einen kleinen Flur verbunden war. […]
Aus dem Radio drangen klickende Geräusche. Es war 12:30 Uhr am 22. Juni 1941.
»Tania, sei ruhig und setz dich«, befahl Papa seiner Tochter. »Sie fangen an. Irina, setz dich auch hin.«
Genosse Wjatschelaw Molotow, Joseph Stalins Außenminister, begann:
»Männer und Frauen, Bürger der Sowjetunion – die sowjetische Regierung und ihr Präsident, Genosse Stalin, haben mich angewiesen, Folgendes bekannt zu geben. Um vier Uhr morgens haben deutsche Streitkräfte den Krieg in unser Land gebracht, ohne dass der Sowjetunion irgendeine Begründung oder Kriegserklärung übermittelt wurde. Kiew, Sebastopol, Kowno und andere Städte wurden bombardiert. Der Angriff gegen die Sowjetunion wurde trotz der Tatsache unternommen, dass zwischen Deutschland und Russland ein Nichtangriffspakt besteht. […] Die Regierung fordert euch, Männer und Frauen der Sowjetunion, auf, euch noch stärker der gloreichen bolschewistischen Partei, der sowjetischen Regierung und unserem großen Führer, dem Genossen Stalin, zu verpflichten. Unsere Sache ist gerecht. Wir werden den Feind zermalmen. Der Sieg wird unser sein.«
Im Radio wurde es still und die Familie saß schweigend und wie erstarrt da.
Schließlich sagte Papa: »Oh, mein Gott.« Er starrte Pascha an.
Mama sagte: »Wir müssen sofort unser Geld von der Bank holen.«
Babuschka Anna sagte: »Nicht schon wieder eine Evakuierung! Noch mal überleben wir das nicht. Wir sollten besser in der Stadt bleiben.«
Deda sagte: »Ob ich wohl noch einmal eine Stelle als Lehrer bekomme? Ich bin fast vierundsechzig. Es ist eher Zeit zu sterben, als schon wieder weiterzuziehen.«
Dascha sagte: »Die Garnison in Leningrad zieht nicht in den Krieg, nicht wahr? Oder müssen sie auch in den Krieg?«
Pascha sagte: »Krieg! Tania, hast Du das gehört? Ich melde mich freiwillig. Ich kämpfe für Mütterchen Russland.«
Bevor Tatiana antworten konnte, sprang ihr Vater auf und schrie Pascha an: »Was denkst du dir? Wer soll dich denn nehmen?«
»Ach, komm, Papuschka«, erwiderte Pascha lächelnd. »Gute Männer werden im Krieg immer gebraucht.«
»Gute Männer ja, aber keine Kinder«, fuhr Papa ihn an und kniete sich auf den Boden, um unter Daschas und Tatianas Bett zu schauen.
»Krieg! Das ist doch nicht möglich«, sagte Tatiana langsam. »Hat Genosse Stalin nicht einen Friedensvertrag unterzeichnet?«
Mama schenkte Tee ein und erwiderte: »Tania, es ist die Wahrheit. Es ist wirklich wahr.«
Tatiana versuchte, die Begeisterung in ihrer Stimme zu unterdrücken, als sie fragte: »Werden wir … evakuiert
Papa zog einen alten, schäbigen Koffer unter dem Bett hervor.
»So schnell schon?«, fragte Tatiana.
Sie kannte die Evakuierung aus den Geschichten, die Deda und Babuschka ihr von den unruhigen Zeiten während der Revolution von 1917 erzählt hatten, als sie in den Ural in ein Dorf gezogen waren, dessen Namen sich Tatiana nie merken konnte. Wie sie mit all ihren Habseligkeiten auf den Zug gewartet, sich hineingedrängt hatten und schließlich mit einem Boot über die Wolga gefahren waren… […]
Der Gedanke an die Evakuierung erfüllte Tatiana mit großer Aufregung. Sie war 1924, im Jahr von Lenins Tod, zur Welt gekommen, nach der Revolution, nach dem Hunger, nach dem Bürgerkrieg. Sie hatte die schlimmen Ereignisse nicht miterlebt, aber was jetzt bevorstand, war gewiss nicht weniger schrecklich.
Deda blickte sie mit seinen schwarzen Augen prüfend an und fragte: »Tanuschka, was denkst du gerade?«
Sie versuchte gleichmütig zu wirken. »Nichts.«
»Was geht in deinem Kopf vor? Es ist Krieg. Verstehst du?«
»Ich verstehe.«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, das tust du nicht.« Deda schwieg. »Tania, das Leben, wie du es kennst, ist jetzt vorbei. Denk an meine Worte. Von diesem Tag an wird nichts mehr so sein, wie es mal war.«
[Paullina Simons: Die Liebenden von Leningrad, aus dem Englischen übersetzt von Magarethe von Pée, o.A.d.O.: Ungekürzte Lizenzausgabe der RM Buch und Medien Vertrieb GmbH 2002, S. 15-20]

Das weitere Buch lässt den Leser dies anschaulich miterleben.
Neben gut eingefangenen, beispielhaften Szenen, gibt es auch eine Reihe historischer Informationen, die die Zusammenhänge verständlich machen.

Von der bisherigen Beschreibung sollte man sich aber nicht täuschen lassen,
denn auch wenn der Roman all das enthält, handelt es sich eindeutig nicht um ein Geschichtsbuch, sondern um eine Liebesgeschichte.

Sehr romantisch fand ich denn auch, wie sich Tatjana und Alexander kennengelernt haben. Ich habe mitgelitten, als sich herausstellte, dass Alexander der Alexander von Dascha war und fand wunderbar traurig, als Tatiana auf ihn verzichtete, weil es ganz viele Männer auf der Welt gäbe, sie aber nur eine Schwester habe.

Etwas schwer tat ich mich mit dem daran anschließenden Versteckspiel und der Verlogenheit, in der Alexander seine Beziehung mit Dascha aufrecht erhält und der Familie als ihr Verlobter gegen über auftritt, während er und Tatiana sich weiterhin treffen. Da hatte ich zumindest Probleme mich weiterhin mit den Protagonisten zu identifizieren.

In dieser Phase des Buches hielt mich somit doch eher die Beschreibung der Lebensumstände im belagerten Leningrad bei der Stange, denn diese sind in ihrer Schrecklichkeit und zugleich Alltäglichkeit, die es in meinen Augen noch schrecklicher macht, wirklich überzeugend eingefangen.

Erst als Tatiana – nach einer Reihe von spannenden und tragischen Ereignissen, die an dieser Stelle noch nicht verraten werden sollen – aufs Land flüchtet und Alexander ihr dorthin folgt, konnte ich mich wieder auf deren Liebesgeschichte einlassen.

Der Rest des Buches schlug mich dann richtig in den Bann. Ich fieberte regelrecht mit, ob es den beiden gelingen würde, den Erpressungen Dimitris zu entgehen und vielleicht sogar zusammen nach Amerika zu entkommen…

Als ich die letzten Seiten las, muss ich zugeben, habe ich sogar ein paar Tränen vergossen.

Fazit:
Ein echter Schmöker, in den man versinken kann.


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