Lectrix – Notizen einer Leserin

15. August 2006

Craig Clevenger: Der geniale Mister Fletcher

Filed under: Craig Clevenger — Lectrix @ 21:19

Mir gefiel dieses Buch.
Es wurde mir von meinem Lebenspartner empfohlen.
Nachdem ich mich mit ihm eben über es unterhielt, gefällt es mir sogar noch besser.
Allerdings bin ich unsicher, wem ich es meinerseits empfehlen kann,
denn dieses Buch ist nicht nur gut – es ist vor allem anders.

Bevor ich darauf eingehe, was mich bei diesem Buch fesselte,
vorab erstmal etwas, was mir an diesem Buch nicht gefällt:
Das ist der Titel der deutschen Übersetzung.
Durch den Titel werden Assoziationen geweckt und Erwartungen geschürt,
die dieses Buch nicht erfüllt und wahrscheinlich nie erfüllen sollte.
Der Orginaltitel „The Contortionist’s Handbook“ passt jedenfalls viel besser zu dem,
um was es in diesem Buch geht.

Die eigentliche ‚Handlung‘ ist schnell umrissen:
Der Ich-Erzähler muss sich, nachdem er nach der Einnahme einer Überdosis Schmerztabletten ins Krankenhaus eingeliefert wurde, einer psychologischen Untersuchung unterziehen lassen. Er weiß, dass der Psychologe überprüfen will, ob die Überdosis absichtlich eingenommen wurde, also ein Selbstmordversuch vorliegt. Wenn eine Absicht festgestellt und Wiederholungsgefahr diagnostiziert würde, würde er in die geschlossene Abteilung einer Psychatrie eingeliefert werden. Er ist sich dessen sicher, da er solche Untersuchungen schon mehrfach erlebt hat. Es ist nämlich nicht das erste Mal, dass er nach einer Überdosis Schmerztabletten eingeliefert wurde.

Aufgrund seiner Vorerfahrungen ist er in der Lage, die jeweils angebrachten Antworten auf die Fragen des Psychologen zu geben und dazu passende Verhaltensweisen zu zeigen. In einer Art Metaebene werden die gewählten Verhaltensweisen und Antworten begründet:

»Daniel, ich möchte, daß sie von hundert rückwärts zählen, in Siebenerintervallen, bitte. Verstehen Sie?«
Ich nicke.
»So weit Sie kommen, wann immer Sie bereit dazu sind.«
Ich muß mich so benehmen, als wäre das nicht leicht, aber eben doch gerade noch machbar. »Dreiundneunzig … sechsundachtzig …« Ich schließe meine Augen, um eindrucksvoller zu wirken, nehme die Hände zu Hilfe. » … neunundsiebzig … zweiundsiebzig … fünfundsechzig …«
»Danke. Das ist weit genug.« Sie stoppen einen bei einer Zahlenreihe fast immer zwischen der fünften und achten Ziffer.
Die Siebenerreihe ist ein Gedächtnistest. Dabei stellt die Sieben die Durchschnittszahl dar, die vom Kurzzeitgedächtnis gespeichert wird. Ein schlechtes Kurzzeitgedächtnis ist ein zentrales Symptom für eine Depression, und ich muß unbedingt erreichen, daß er das ausschließt.
(Craig Clevenger: Der geniale Mister Fletcher, Berlin: Aufbau-Verlag 2005, S. 52)

Nach einer dem Psychologen gegebenen Antwort findet sich häufig ein kurzer Gedanke daran, was die wahrheitsgemäße Antwort gewesen wäre. Von dieser ausgehend, erinnert sich der Ich-Erzähler dann an früherere Erlebnisse, frühere Entscheidungen, frühere Gespräche und seine daraus gewonnenen Erkenntnisse, daraus gezogenen Schlüsse und seinen in Folge dessen sich ergebenen weiteren Lebensweg zurück, der letztendlich zu der momentan gegebenen Situation führte.

Nach und nach erhält der Leser dabei Einblick, wie geschickt der Ich-Erzähler sich bereits seit Jahren in regelmäßigen Abständen immer wieder eine komplett neue Identität mit kompletter Vergangenheit und perfekt gefälschten Papieren zulegt. Man kann staunen, wie genial er in diesem Spiel ist:

Vor siebenundzwanzig Jahren war ich von Mr. Liam und Mrs. Fiona Kelly in die Welt gesetzt worden. Ich war unter den Todesanzeigen des Boston Globe auf die beiden gestoßen. Liam Kelly hatte seine Frau entgegen der landläufigen Statistik, um sieben Jahre überlebt, nachdem sie einem Schlaganfall erlegen war. Sieben Kinder hatten sie überlebt, wobei Martin noch gar nicht einbezogen war.
Es kostete mich einen siebenwöchigen Briefwechsel mit dem Einwohnermeldeamt von Massachusetts, in dem ich unbeirrt darauf bestand, daß ihnen ein Fehler unterlaufen sein müsse. Ich nutzte einen Bogen, auf dem ich den Fehldruck eines Briefkopfes (die falsche Telefonnummer) von McKinney, Watterson und Ross verwendete, er stammte aus dem Abfalleimer eines Copy-Shops. MW&R hatte eine imponierende Kette angelsächsischer Nachnamen vorzuweisen, die entweder auf eine Buchhaltungsfirma oder eine Anwaltskanzlei schließen ließen. Beides schmierte gewöhnlich die Rädchen einer Behörde. Schließlich war das Amt tatsächlich willens, die Schuld auf sich zu nehmen und eine gefälschte Geburtsurkunde auf Kosten des Steuerzahlers für gültig zu erklären.
(Craig Clevenger: Der geniale Mister Fletcher, Berlin: Aufbau-Verlag 2005, S. 176)

Man begreift jedoch auch bald, dass das für ihn kein Spiel darstellt, sondern einer heftigen Furcht entspringt, in eine geschlossene Abteilung eingeliefert zu werden. Spätestens nach jeder neuen Einlieferung wechselt er deshalb seine Identität, um auch beim folgenden Mal wieder als Erstlingsfall auftreten zu können. Man bekommt schnell mit, dass der Ich-Erzähler inzwischen therapie-resistent ist. Einerseits erweist er sich als genial in seiner Wandlungsfähigkeit, seinem photographischen Gedächtnis, seinen mathematischen Fähigkeiten und seinen Fälscherfertigkeiten. Andererseits handelt es sich bei ihm jedoch offensichtlich um ein drogenabhängiges, aus erbärmlichen Verhältnissen stammendes, in die Kriminalität abgerutschtes, regelmäßig von heftigsten Kopfschmerzen heimgesuchtes Wrack.

Ich war deshalb während der Lektüre immer wieder hin und her gerissen zwischen der Neugierde, ob und wie es ihm gelingen würde, sich in der gegenwärtigen Situation erneut aus der Affaire zu ziehen, und dem Gefühl, dass es vielleicht doch nicht das Schlechteste für ihn wäre, wenn der Psychologe ihn durchschauen würde und ihm Hilfe anbieten könnte…


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