Gerade habe ich die letzten Seiten dieses Buches gelesen.
Und, was soll ich schreiben: Ich bin begeistert!
Ich bin begeistert von diesem Buch.
Oder besser:
Ich bin begeistert von allen drei Teilen dieses Buches, so unterschiedlich sie sind:
– Prolog. Beichte eines zum Tode Verurteilten am Abend seiner Verhaftung
– Das Evangelium nach Pilatus
– Chronik eines gestohlenen Romans
Nachfolgend möchte ich sie deshalb zunächst einzeln vorstellen,
bevor ich abschließend noch etwas zum Buch im Ganzen anfüge.
Prolog. Beichte eines zum Tode Verurteilten am Abend seiner Verhaftung
Eric-Emmanuel Schmitt wagt, die Ich-Perspektive Jesu einzunehmen. Er befindet sich auf dem Ölberg und wartet darauf, dass Judas die Häscher zu ihm führt. Während er wartet denkt er zurück, wie es dazu gekommen ist, dass er nun dort steht und darauf wartet verraten und zum Tode verurteilt zu werden. In Rückblenden erfahren wir von seinem Leben, von seinem Glauben, aber auch von seinen Zweifeln.
Meines Erachtens ist dieser Prolog sowohl für einen gottgläubigen Christen als auch für einen Atheisten gleichermaßen interessant zu lesen. Denn Eric-Emmanuel Schmitt gelingt die Gratwanderung, Jesus einerseits als einen Menschen darzustellen, dem sich andere Menschen anschließen, weil seine Lehren sie faszinieren und sie in ihm Gottes Sohn sehen, andererseits dessen eigenen Zweifel an der ihm zugesprochenen Rolle zu vermitteln, ohne ihm dabei seiner Außergewöhnlichkeit zu berauben. Denn bei der Lektüre des Prologes wird einem immer klarer, dass das Opfer Jesus umso bedeutsamer ist, wenn er nicht wusste, ob er der Messias ist. Im Vertrauen auf die Prophezeihungen, ging er das Wagnis ein, an die Auferstehung zu glauben. So stark zu glauben, dass er sein Leben darauf setzte. Und so wartet er denn am Ölberg darauf, dass Judas die Häscher zu ihm führt.
In ein paar Stunden wird es offenbar, ob ich tatsächlich für meinen Vater Zeugnis ablege oder nur ein Wahnsinniger bin. Einer mehr.
Der große, der einzige Beweis erfolgt erst nach meinem Tod. Wenn ich mich täusche, werde ich es nicht einmal merken, weil ich im Nichts, in der Belanglosigkeit, im Unbewußten treiben werde. Behalte ich recht, will ich versuchen, beim Überbringen der frohen Botschaft nicht zu triumphieren, denn ich habe nie für mich gelebt, und ich sterbe auch nicht für mich.
(Eric-Emmanuel Schmitt: Das Evangelium nach Pilatus, Zürich: Amman-Verlag 2005, S. 82)
Das Evangelium nach Pilatus
Der zweite Teil des Buches ist im Stil eines Briefromans gehalten. Das eröffnet dem Autoren die Möglichkeit trotz eines von sich selbst sehr überzeugten Ich-Erzählers dessen Irrwege nach zu zeichnen. Immer wieder kann Pontius Pilatus seinem Bruder Titus schreiben, was die Lösung ist. Und im nächsten Brief einräumen, dass es so doch nicht gewesen sein kann und stattdessen eine neue Spur aufzeigen, der er folgt. Da Titus noch nie in Palästina war, sondern im fernen Rom weilt, bietet es außerdem einen guten Anlass, die verschiedenen politischen und religiösen Gruppierungen in Jerusalem kurz vorzustellen, sobald ihnen im Laufe seiner Ermittlungen eine Rolle zufällt. Und Pilatus muss ermitteln, will er einem drohenden Volksaufstand vorbeugen.
Am Abend des Pascha-Festes konnte er noch schreiben:
Ich habe wie immer das Schlimmste befürchtet, bin aber wie jedes Jahr Herr der Lage geblieben. Alles ist glimpflich abgelaufen, ohne größere Zwischenfälle. Fünfzehn Verhaftungen und drei Kreuzigungen mußten wir vornehmen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, nur das Übliche also.
(Eric-Emmanuel Schmitt: Das Evangelium nach Pilatus, Zürich: Amman-Verlag 2005, S. 87)
Aber der folgende Brief beginnt mit:
Die Leiche ist weg!
Ich hatte gerade meinen gestrigen Brief an Dich zusammengerollt, da stürzt der Zenturion Burrus herein und macht mir eine erschreckende Meldung: »Die Leiche ist weg!«
Ich habe sofort begriffen, daß er diesen Magier aus Nazareth meint, und ahne schon die Verwicklungen, die auf mich zukommen werden, wenn wir die Leiche nicht bald finden.
(Eric-Emmanuel Schmitt: Das Evangelium nach Pilatus, Zürich: Amman-Verlag 2005, S. 88)
Chronik eines gestohlenen Romans
Der letzte Teil kann in der Orginalausgabe nicht enthalten gewesen sein, nimmt er doch Bezug auf Ereignisse, die erst nach der Veröffentlichung der Erstauflage geschahen, z.B. die Reaktion der Presse und der Leserschaft auf dieses Buch.
Lesenswert fand ich ihn, weil nun der Autor selbst als Ich-Erzähler auftritt und dem Leser Zeugnis ablegt, von seinen Überzeugungen, den Gründen, die ihn veranlassten, bestimmte Szenen im vorhergehenden Roman auf bestimmte Weise darzustellen und welche Überwindung ihn die Arbeit an diesem Buch abverlangte.
Es gibt Worte, die brennen. »Ich, Jesus von Nazareth« zu schreiben ist eine Überschreitung, die mich jahrelange Grübeleien gekostet hat. Ein Atheist hätte dabei keine Probleme; ein Jude oder Muslim nur ein paar leicht überwindliche Skrupel; für einen Christen jedoch ist das Vorhaben, im Namen dessen zu sprechen, den er als transzendenten Gott betrachtet, erschreckend, weil im Grunde ein Sakrileg.
Das war sicher der Grund dafür, dass ich diese Arbeit ständig verlegt und verschoben habe… Nicht aus Angst vor dem Roman. Sondern aus Angst vor diesem Roman.
(Eric-Emmanuel Schmitt: Das Evangelium nach Pilatus, Zürich: Amman-Verlag 2005, S. 296)
Im Ganzen
Drei Ich-Erzähler also.
Drei verschiedene Perspektiven.
Drei verschiedene Zeiten (Vor der Auferstehung, nach der Auferstehung, heute).
Aber gemeinsam in dem Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns.
Und alles regt zum Nachdenken an.
Über Jesus, über Gott und über die eigene Stellung diesen und der Welt gegenüber.