Lectrix – Notizen einer Leserin

18. Februar 2007

Ken Grimwood: Replay – Das zweite Spiel

Filed under: Ken Grimwood — Lectrix @ 13:08

Dieses Buch war mir in der Bibliothek in die Finger geraten, als ich eigentlich nach einem anderen Science-Fiction-Roman suchte. Das Cover verlockte mich zu einem genaueren Blick und der Klappentext dann dazu es mitzunehmen, um ihm eine Chance zu geben, denn demnach konnte es nur entweder sehr gut oder der totale Schund sein. Nach dem ich die ersten 128 Seiten gelesen hatte, war ich mir sicher, dass ersteres zutreffend ist und begann es – wieder von vorne beginnend – meinem Lebenspartner vorzulesen…

Wer hat sich nicht schon Mal gefragt, was er anders machen würde, wenn er die Chance dazu bekäme. Wenn man dabei ehrlich ist, gelangt man jedoch schnell zu der Einsicht, dass man es damals nicht besser wissen konnte – man wusste ja nicht, was daraus werden würde – und dass man sich darum wohl wieder so verhielte, wenn die Uhr zurück gedreht würde – zumindest wünsche ich allen, dass es ihnen so ergeht. Was aber wäre, wenn man wüsste, worauf es hinaus läuft?

Ken Grimwood nimmt seine Leser mit auf ein entsprechendes Gedankenexperiment:
Der Roman beginnt damit, dass sein Hauptprotagonist, Jeff Winston, stirbt. In seinem Büro, am 18. Oktober 1988, um 1:06 Uhr. Doch gleich darauf kommt er wieder zu Bewusstsein. Im eigenen Körper – allerdings des Jahres 1963 und in seinem College-Zimmer. Nach einigen Orientierungsschwierigkeiten erkennt er, dass sein Leben bis dahin so ablief, wie er sich daran erinnert, dass er sich darüber hinaus aber auch daran erinnert, wie es in seinem ersten Leben danach weiter ging, er sich dieses Mal aber anders verhalten kann. Mit seinem Wissen gelingt es ihm, nicht nur bei einigen persönlichen Entscheidungen, die er später bereute, andere Wege einzuschlagen, sondern seine Kenntnisse auch dazu zu nutzen, sich ein Startkapital zu verschaffen und ein erfolgreicher Geschäftsmann zu werden. Und so lebt er bis

Etwas  Unsichtbares durchbohrte seine Brust, schmerzhafter und stärker als alles, was er je gefühlt hatte … außer einmal.
Er fiel auf die Knie, versuchte sich zu erinnern, welcher Tag es war, wie spät es war. Sein starrer Blick nahm die Herbstszenerie auf, das Tal, das eben noch das Sinnbild wiedererlangter Hoffnung und unbegrenzter Möglichkeiten gewesen war. Dann fiel er auf die Seite, das Gesicht vom Fluß abgewandt.
Jeff Winston starrte hilflos den orangeroten Ulmentunnel an, der ihn zu dieser Wiese des Versprechens und der Erfüllung geführt hatte, und dann starb er.

Er war umgeben von Dunkelheit und von Schreien. Ein paar Hände umklammerten seinen rechten Arm, die Fingernägel bohrten sich durch den Stoff seines Hemdsärmels.
Vor sich sah Jeff ein Abbild der Hölle: Weinende Kinder, die im Laufen schrien und stolperten, ohne den schwarzen geflügelten Wesen entkommen zu können, die auf die Kinder herabstießen und auf ihre Gesichter, Münder und Haare einhackten…
Dann zog eine perfekt gestylte Blondine zwei der kleinen Mädchen in ein Auto, brachte sie vor dem Angriff in Sicherheit.
Er sah sich einen Film an, begriff Jeff, einen Hitchcok-Film: Die Vögel.
Der Druck ließ zusammen mit der Intensität des Geschehens nach, und als er den Kopf zur Seite wandte, erblickte er Judy Garland, die mädchenhaft-verlegen lächelte. Zu seiner Linken schmiegte sich Judys Freundin Paula in die schützenden Arme des jungen Martin Bailey.
1963. Alles hatte von neuem begonnen…
(Ken Grimwood: Replay – Das zweite Spiel, übersetzt von Norbert Stöbe, München: Heyne 2004, S. 127/128)

Mehr sei hier nicht verraten, denn wie es weitergeht sollte man lieber selbst lesen.

Uns hat der Roman jedenfalls sehr gut gefallen.
Ich kann die Lektüre deshalb nur empfehlen
und werde mir dieses Buch kaufen, um es im Freundeskreis verleihen zu können.


13. Februar 2007

Bertolt Brecht: Drei Groschen Roman

Filed under: Bertolt Brecht — Lectrix @ 8:21

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es Mal wieder Zeit für einen Klassiker würde. Auf die Weimarer-Klassiker oder Vergleichbares hatte ich aber keine Lust. Also entschloss ich mich, endlich den „Drei Groschen Roman“ zu lesen, was ich schon seit Jahren machen wollte, aber irgendwie immer wieder darüber hinweg kam. Für diesen Entschluss wurde ich belohnt, denn dieser Roman, den Bertolt Brecht 1934 verfasste, hat es wahrlich in sich.

Auch wenn er in seiner Ausdrucksweise zunächst etwas ungewohnt zu lesen ist und vordergründig als Gaunergeschichte angelegt scheint, stellt der „Drei Groschen Roman“ mit seinen satirisch überzeichneten Charakteren doch vor allem eine Gesellschafts-, Kapitalismus- und Kriegskritik dar, die sich vom gewählten Schauplatz London zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sicherlich nicht nur auf die 20er und 30er Jahre in Deutschland übertragen lässt, sondern auch auf andere Länder und Zeiten.

Ein wenig verwirrend ist für diejenigen, die (wie ich) die Dreigroschenoper kennen, zudem zunächst, dass im Dreigroschenroman zwar viele Protagonisten der Dreigroschenoper auftreten, diese aber wesentlich vielschichtiger und weiterentwickelt sind, wodurch konsequenter Weise auch das Geschehen einen gänzlich anderen Verlauf nimmt. Dieser Wechsel von Wiedererkennen und mit Spannung verfolgen, wie es in diesem Fall weiter geht, macht beim Lesen einen besonderen Reiz aus.

So kommt z.B. Mackie Messer im Dreigroschenroman gar nicht mehr direkt vor. Aus Andeutungen lässt sich jedoch erkennen, dass Macheath in seiner Vergangenheit wohl Mackie Messer war, sich aber inzwischen dem „ehrlichen“ Geschäftsleben zugewandt hat und nun auf dem Markt durch zu setzen versucht.

Es gab eine ganze Anzahl von Läden gleicher Aufmachung in London, wo Waren billiger als anderswo waren. Sie hießen B.-Läden. Das sollte Billigkeitsläden heißen: einige Leute , vornehmlich Ladenbesitzer, lasen es jedoch als Betrugsläden. Man konnte von Rasierklingen bis zu Wohnungseinrichtungen alles ungewöhnlich billig bekommen und im großen und ganzen war die Geschäftsführung reell. Die ärmere Bevölkerung kaufte gern in diesen Läden, aber die Besitzer anderer Läden und die kleinen Handwerker waren über sie sehr aufgebracht. Diese Läden gehörten Herrn Macheath. Er hatte noch einige andere Namen. Als Besitzer der B.-Läden nannte er sich ausschließlich Macheath.
(Bertolt Brecht: Drei Groschen Roman, o.A.d.O.: Rowohlt 1959, S. 47)

Wie in der Dreigroschenoper entscheidet sich Peachums Tochter Polly zur Ehe mit Macheath – allerdings kann ich mich nicht entsinnen, dass sie es in der Oper tat, um ihren bereits in Folge anderer Techtelmechtel vorhandenen anderen Zustand zu verheimlichen.

Sie [Polly] hatte ein Gefühl der Geborgenheit bei Mac. Das war kein junger Schnösel wie Smiles, der überhaupt keine Verantwortung kannte. Als Mac von heimlicher Heirat sprach stellte sie sich vergnügt das Gesicht ihres Vaters vor, wenn er die Sache erfahren würde.
(Bertolt Brecht: Drei Groschen Roman, o.A.d.O.: Rowohlt 1959, S. 84)

Und tatsächlich – wie in der Oper – ist Peachum absolut gegen die Verbindung seiner Tochter mit Macheath, im Roman aber weniger aus moralischen Bedenken als viel mehr, weil er sie als Unterpfand für eigene geschäftliche Pläne und daraus resultierende Probleme benötigt. Peachum ist nämlich zwar wie in der Oper Inhaber der Firma „Bettlers Freund“, diese wirkt im Roman aber bereits viel professioneller und durchorganisierter.

Um der zunehmenden Verhärtung der Menschen zu begegnen, hatte der Geschäftsmann J.J. Peachum einen Laden eröffnet, in dem die Elendsten der Elenden sich jenes Aussehen erwerben konnten, das zu den immer verstockteren Herzen sprach. […]
Den Bettlern, die sich Peachum anvertrauten, gelang es bald besser, Einnahmen zu erzielen. Sie willigten ein, ihm für seine Mühe etwas von ihrem Verdienst abzulassen. […]
Trotzdem ruhte er nicht auf diesen Lorbeeren aus. Unermüdlich war er bestrebt, seine Leute zu qualifizieren. In einigen Räumen seines nun schon bedeutend vergrößerten Geschäftshauses wurden die Bettler, die sich immer mehr in Angestellte verwandelten, nach strenger Eignungsprüfung in fachgemäßem Zittern, Blindgehen usw. unterrichtet. Peachum duldete keinen Stillstand. […]
Nach etwa 25 Jahren aufreibender Tätigkeit besaß Peachum drei Häuser und ein blühendes Geschäft.
(Bertolt Brecht: Drei Groschen Roman, o.A.d.O.: Rowohlt 1959, S. 19-21)

Darüber hinaus lässt sich Peachum im Roman von dem Makler Coax – der soweit ich mich erinnere in der Oper gar nicht vorkam – zur Beteiligung an einer „Gesellschaft zur Verwertung von Transportschiffen“ überreden.

William Cox war von Beruf Makler. Seiner Visitenkarte nach hatte er irgendwo in der City ein Büro; jedoch gab es kaum jemand, der je dorthin gekommen wäre, nicht einmal er selber suchte es auf. Es hätte auch gar keinen Zweck gehabt, denn es saß dort nur ein blasses, abgehärmtes Mädchen mit einer alten Schreibmaschine, deren Lettern in Unordnung waren, was nichts machte, da sie nicht zum Schreiben da war. Das Mädchen saß auch nur da, um die Post abzuwarten, und die kam hierher, damit Herrn Coax niemandem seine Wohnung bekannt geben mußte. Denn er empfing niemanden in seiner Wohnung, sondern machte alle seine Geschäfte im Restaurant ab. […]
Wenn er auch keine teuren Angestellten hatte, so war er doch darum nicht ohne Hilfe. In gewissen Ministerien saßen Leute, die ihm mindestens so nützlich waren wie ein paar unverschämte und faule Buchhalter.
Einen solchen Mann hatte er zum Beispiel im Marineministerium.
(Bertolt Brecht: Drei Groschen Roman, o.A.d.O.: Rowohlt 1959, S. 31 f.)

Und so droht die „Gesellschaft zur Verwertung von Transportschiffen“ schon bald allen – außer Coax – statt Gewinnen nur Verluste zu bringen, weshalb Peachum Coax mittels seiner Tochter an sich binden möchte und diese darum von Macheath getrennt braucht.

Damit habe ich die Grundkonstellation umrissen. Denjenigen, die nun interessiert, wie die drei Herren Peachum, Macheath und Coax ihre kriminellen Energien einsetzen, um sich in der „ehrlichen“ Geschäftswelt Vorteile zu verschaffen, andere auszunutzen und Konkurrenten aus dem Wege zu räumen, welche Rückschläge sie zwischenzeitlich hinnehmen müssen und wer sich am Ende durchsetzen wird, sowie vielleicht auch, wie es dabei den Menschen in ihrem Umfeld ergeht und wer von diesen geopfert wird und vor die Hunde geht, empfehle ich den „Drei Groschen Roman“ selbst in die Hand zu nehmen und sich diese Lektüre zu gönnen.


4. Februar 2007

Andreas Eschbach: Eine Billion Dollar

Filed under: Andreas Eschbach — Lectrix @ 15:52

Die 887 Seiten dieses Romans lasen mein Lebensgefährte und ich uns in Rekordzeit gegenseitig vor, nutzten wir doch jede freie Minute – bzw. jede Minute, die wir uns frei nehmen konnten.

Die Grundidee des Buches lässt sich kurz umreißen: John Salvatore Fontanelli ist am 23. April 1995 der jüngste männliche Nachkomme Giacomo Fontanellis, der am 23. April des Jahres 1495 einen Traum hatte, der dazu führte, dass er sein Vermögen dem Rechtsgelehrten Vacchi zur Betreuung anvertraute, dessen Nachfahren das Erbe nach fünfhundert Jahren eben an den jüngsten männlichen Nachkommen Giacomo Fontanellis übergeben sollten, damit dieser der Menschheit die verlorene Zukunft zurückgebe. Durch geschickte Wertanlagen sowie Zinseszins ist die damalige Summe inzwischen zu dem ungeheuren Betrag von einer Billion Dollar angewachsen.

»Eine Billion. Das sind eintausend Milliarden.« Cristoforo Vacchi nickte. »das heißt ganz einfach, Sie sind der reichste Mann der Welt, sogar der reichste Mann aller Zeiten, und das mit Abstand. Eine Billion Dollar werden Ihnen allein dieses Jahr nicht weniger als vierzig Milliarden Dollar Zinsen einbringen. Es gibt etwa zwei- bis dreihundert Dollarmilliardäre, je nachdem, wie man rechnet, aber sie werden schwerlich mehr als zehn finden, deren Vermögen größer ist als allein ihr Zinsgewinn dieses einen Jahres. Niemand hat jemals annähernd so viel Geld besessen, wie Sie besitzen werden.«
(Andreas Eschbach: Eine Billion Dollar, Bergisch Gladbach: Lübbe 2001, S. 41.000.000.000 $)

Nach diesem Zitat kann man schon erahnen, dass das Buch damit beginnt, dass sich tatsächlich Nachkommen dieses Rechtsgelehrten am 23. April 1995 pflichtbewusst in New York mit dem dort lebenden John Salvatore Fontanelli treffen, um ihm die Vollmachten über das Geld auszustellen. In diesem Zusammenhang erzählen sie ihm natürlich auch von der Prophezeiung und der Verantwortung, die damit in seine Hände gelegt sei. Anschließend bieten sie ihm an, mit Ihnen nach Italien zu kommen, um sich als Gast auf ihrem Anwesen allmählich mit der neuen Situation vertraut zu machen und in Ruhe zu überlegen, wie er weiter vorgehen will.

Es ist überaus spannend zu verfolgen, was John Salvatore Fontanelli mit dem ererbten Geld anfängt, welchen Versuchungen er erliegt, welche Zweifel ihn plagen, wie er der Menschheit die verlorene Zukunft zurück zu geben versucht, wie viele verschiedene Ansätze zur Rettung der Welt verfolgt werden könnten, wem von den vielen, die sich dabei als Hilfe anbieten, er zu vertrauen sich entscheidet und ob diese Entscheidung sich als richtig herausstellen wird…

Mit einem Schlag war auch dem letzten Journalisten klar geworden, was ein Privatvermögen von einer Billion Dollar bedeutete. In zahllosen Sondersendungen, Gesprächsrunden und Interviews rund um den Globus wurde wieder und wieder erörtert, was McCaine John schon bei ihrem ersten Zusammentreffen erklärt hatte: dass es eine Sache war, wenn ein großer Investmentfonds oder eine Bank über Hunderte von Milliarden Dollar verfügte, und eine ganz andere, wenn einer einzelnen Person dieselbe Summe Geld wirklich und wahrhaftig gehörte.
»Der Unterschied«, fasste es ein gewisser Lord Peter Rawburne zusammen, laut Interviewankündigung einer der bedeutendsten Wirtschaftsjournalisten der Welt, »ist ganz einfach der, dass Fontanelli sich den Teufel um Rentabilität scheren muss bei seinen Entscheidungen. Das macht ihn unberechenbar. Man könnte auch sagen, frei
(Andreas Eschbach: Eine Billion Dollar, Bergisch Gladbach: Lübbe 2001, S. 364.000.000.000 $ f.)

Doch auch wenn sich John Salvatore Fontanelli nicht um Rentabilität scheren muss, lernt man bei der Lektüre dieses Romans dennoch sehr viel über Konzernmanagement, betriebswirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten und Finanzpolitik, denn diese Mechanismen kann man sich als reichster Mann der Welt zunutze machen, um die eigenen Pläne und Ideen durch zu setzen.

Mit besonderer Neugier erfüllte uns deshalb immer mehr, ob Andreas Eschbach zum Abschluss tatsächlich eine Lösung präsentieren würde – und falls ja, auf welchen Weg er sich festzulegen wagt…

Darüber hinaus ist der Roman aber auch noch äußerst spannend, sind doch nicht alle John Salvatore Fonatelli wohlgesonnen, stellt sein Vermögen schließlich eine ungeheure Versuchung dar.

Wir können dieses Buch uneingeschränkt weiter empfehlen.


2. Februar 2007

Jonathan Stroud: Bartimäus. Das Amulett von Samarkand

Filed under: Jonathan Stroud — Lectrix @ 17:43

Zu Weihnachten bekam ich „Bartimäus. Das Amulett von Samarkand“ geschenkt. Da ich schon zuvor von einigen Freunden gehört hatte, dass Strouds Trilogie um Bartimäus lesenswert sein soll, schlug ich sogleich gespannt die erste Seite auf, wo ich las:

Die Temperatur im Zimmer sank rasch. Eis bildete sich auf den Vorhängen und überzog die Deckenlampen mit einer dicken Kruste. Die Glühfäden sämtlicher Birnen schnurrten zusammen und verglommen, und die Kerzen, die wie eine Kolonie Giftpilze aus jeder freien Fläche sprossen, erloschen. Das abgedunkelte Zimmer füllte sich mit einer stickigen gelben Schwefelwolke, in der verschwommene schwarze Schatten wühlten und waberten, und von weit her erklang ein vielstimmiger Schrei. Plötzlich drückte etwas gegen die Tür, die hinaus zur Treppe führte. Das ächzende Gebälk wölbte sich. Unsichtbare Füße patschten über die Dielen und unsichtbare Lippen zischelten Niederträchtigkeiten hinter dem Bett und unter dem Schreibtisch hervor.
Der Schwefeldampf verdichtete sich zu einer dicken Rauchsäule und würgte kleine Tentakel aus, die wie Zungen in die Luft leckten und sich wieder zurückzogen. Die Säule stand direkt über dem Pentagramm und brodelte unablässig zur Decke empor wie die Rauchwolke über einem Vulkan. Dann, nach einer kaum merklichen Unterbrechung, tauchten mitten im Rauch zwei gelbe, stechende Augen auf.
Also bitte – es was sein erstes Mal. Ich wollte ihm einen Schrecken einjagen!
(Jonathan Stroud: Bartimäus. Das Amulett von Samarkand, übersetzt von Katharina Orgaß und Gerald Jung, 4. Auflage, München: blanvalet 2006, S. 9)

Wenn das kein fulminanter, stimmungsvoller und zugleich amüsanter Einstieg ist. Mich sprach das jedenfalls sehr an und machte mir Lust auf mehr. Doch da sich dieses Buch nun in meinem Besitz befand, vertagte ich die Lektüre auf später und wandte mich zunächst dem im Bücherregal unserer Gastgeber entdeckten „Ein Hut voller Sterne“ und dem den Gastgebern geschenkten „Coraline“ zu.

Da ich dann „Bartimäus“ zwischenzeitlich auch noch meinen Lebenspartner lesen ließ, kam ich erst jetzt dazu es selbst zu lesen.

Nach der Lektüre bin ich nun etwas zwiegespalten.

Der oben zitierte Auftakt gefiel mir auch beim zweiten Lesen.

Dann beginnt Jonathan Stroud ganz nach meinem Geschmack voller Anspielungen auf alte Legenden auch noch eine Art Parallelgeschichte anzulegen, wie unsere Welt aussehen könnte, wenn es Magie gäbe:

Das Land zu schützen. Vergiss nicht, wir haben Krieg. Prag beherrscht immer noch die Ebenen östlich von Böhmen, und wir können nur mit Mühe verhindern, dass die Tschechoslowakei auch noch Italien besetzt. Wir leben in unruhigen Zeiten. In London wimmelt es von Spionen und Aufwieglern. Wenn wir das Empire zusammenhalten wollen, brauchen wir eine starke Regierung, will sagen, wir brauchen Zauberer. Stell Dir mal vor, wie unser Land ohne Zauberer aussähe! Nicht auszudenken, wenn die Gewöhnlichen das Sagen hätten! Wir würden im Chaos versinken und wären einer Invasion wehrlos ausgeliefert. Nur unsere Anführer stehen zwischen uns und der totalen Anarchie. Halte dir das immer vor Augen, Junge: Dein Ziel ist es, ein rechtschaffenes Mitglied der Regierung zu werden.
(Jonathan Stroud: Bartimäus. Das Amulett von Samarkand, übersetzt von Katharina Orgaß und Gerald Jung, 4. Auflage, München: blanvalet 2006, S. 74)

Wie zu erwarten kommt es im weiteren Verlauf des Buches zu erstem Aufruhr, den Jonathan Stroud durchaus beeindruckend einfängt:

Zerspringt eine Elementenkugel in einem geschlossenen Raum hat das schreckliche und zerstörerische Folgen: je kleiner der Raum, beziehungsweise je größer die Kugel, desto verheerender die Wirkung. Nathanael und der Großteil der versammelten Zauberer konnten von Glück sagen, dass die Westminster Hall so riesig und die betreffende Kugel relativ klein war. Trotzdem war das Resultat bemerkenswert.
Als das Glas zersplitterte, stoben die Elemente, die darin seit vielen Jahren zusammengesperrt gewesen waren und einander aufgrund ihrer unterschiedlichen Naturen und der begrenzten Verständigungsmöglichkeiten zutiefst verabscheuten, mit ungezügelter Gewalt auseinander. Feuer, Wasser, Luft und Erde – alle vier entwichen mit rasender Geschwindigkeit aus ihrem winzigen Gefängnis und entfesselten nach allen Richtungen ungeheures Chaos. Wer zufällig in der Nähe stand, wurde gleichzeitig vom Sturm umgeworfen, mit Steinen bombardiert, vom Feuer versengt und von Flutwellen überrollt. […]
Die meisten mächtigeren Zauberer kamen so gut wie unversehrt davon. Sie hatten ihre Sicherheitsvorkehrungen getroffen, zumeist in Gestalt gefangener Dschinn, die angewiesen waren, sich sofort zu materialisieren, sobald sie feindliche Magie in der Nähe ihrer Meister registrierten. Schutzschilde lenkten die Wassergüsse, Flammenstöße und umherfliegenden Erdbrocken ab oder absorbierten sie und ließen die Windböen heulend ins Deckengebälk fahren.
(Jonathan Stroud: Bartimäus. Das Amulett von Samarkand, übersetzt von Katharina Orgaß und Gerald Jung, 4. Auflage, München: blanvalet 2006, S. 230)

An derartigen Passagen wird auch deutlich, dass Zauberer in dieser von Jonathan Stroud entworfenen Welt anders agieren, als man das üblicherweise gewohnt ist. Sie können gar nicht selbst zaubern – sie beschwören und beherrschen vielmehr nur Dämonen bzw. Elementare, die das können. Zauberer sind also nur durch Unterdrückung an der Macht. Unterdrückung der Gewöhnlichen. Sowie Unterdrückung der Dämonen.

Durch die Art der Beschreibung dieses Gesellschaftssystems – und insbesondere des arroganten Verhaltens einzelner Zauberer gegenüber einzelner Unterdrückter – bezieht Jonathan Stroud eigentlich eindeutig Stellung und lässt erwarten, dass im Mantel des Fantasyromans – quasi als Parabel – Gesellschaftskritik geübt werden soll.

Stattdessen konzentriert sich die Handlung im Folgenden auf einen einzigen Handlungsstrang, bei dem es zwar zu packenden Verfolgungsjagden, faszinierenden Einbrüchen und einem beeindruckenden Showdown kommt, aber…

So kommt es zu meinem Zwiespalt, denn natürlich ist das Buch spannend und besser als Vieles andere in diesem Genre. Doch nachdem der Autor so vielversprechend anfing, habe ich nun das Gefühl, dass man aus diesem Ansatz soviel mehr hätte machen können und bedaure die verpasste Gelegenheit.
Aber vielleicht ist das jetzt auch einfach unfair, und man sollte den ersten Band einer Trilogie, die von Anfang an als Trilogie angelegt war, erst endgültig beurteilen, wenn man die weiteren beiden Bände kennt.

Ich werde mich also bemühen, mir diese auszuleihen.


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