Lectrix – Notizen einer Leserin

22. Juni 2006

Paul Auster: Nacht des Orakels

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Dieses Buch las ich in den letzten Tagen zum zweiten Mal.

Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob ich es mag.
Aber es fasziniert mich.
Ich ließ mich wieder von der Verschlungenheit der verschiedenen Ebenen gefangen nehmen, von den durch die Komposition der Ereignisse aufgeworfenen Fragen anstecken, von der Stringenz mitreißen, von der möglicherweise wirkenden Magie verzaubern.

Kann man diesen Roman beschreiben?

Man kann damit beginnen, dass es einen Ich-Erzähler gibt. Im ersten Moment dachte ich, dass dieser recht zeitnah berichten würde, aber später erfährt man, dass seit dem »Samstagmorgen im September – den ich lieber den fraglichen Morgen nenne« zwanzig Jahre vergingen. Dadurch hat man bereits zwei Ebenen: Ein Ich-Erzähler, der in Kenntnis dessen, was sich daraus später ergeben wird, von seinen damaligen Ansichten, Beweggründen und Handlungen nicht nur berichtet, sondern das Bedürfnis zu haben scheint, diese zu erklären.

An diesem »Samstagmorgen im September – den ich lieber den fraglichen Morgen nenne« erwarb der Ich-Erzähler, der seit geraumer Zeit unter einer Schreibhemmung litt, in der kleinen Schreibwarenhandlung eines Chinesen ein blau eingebundenes Notizbuch aus Portugal. Als er sich mit diesem Notizbuch, das erste Mal seit neun Monaten, an den Schreibtisch in seinem winzigen Arbeitszimmer setzt, beginnt sogleich eine Geschichte aus ihm herauszuströmen. Womit sich eine dritte Ebene eröffnet, die Ebene dessen, was in dieses blaue Notizbuch hineingeschrieben wird.

Eine weitere Ebene entsteht dadurch, dass die erste Geschichte in dem blauen Notizbuch ihrerseits ein Manuskript enthält. Der Titel dieses Manuskriptes lautet »Nacht des Orakels«. Es handelt sich um einen philosophischen Roman, dessen Inhalt nur kurz umrissen wird. Die Hauptperson ist ein Leutnant, der in Folge einer Kriegsverletzung zwar einerseits erblindet ist, andererseits aber von Vorhersehungen heimgesucht wird. Am Vorabend seiner Hochzeit die Vision empfangend, dass seine Braut sich noch vor Jahresende mit einem anderen Mann einlassen wird, nimmt er sich das Leben.

Wären die Ebenen nur als Rahmenhandlungen ineinander verschachtelt, wäre daran nichts außergewöhnlich. Paul Auster verschachtelt sie aber nicht nur. Er lässt den Eindruck entstehen, dass sie sich bedingen und beeinflussen. Dadurch hat das Buch eine recht komplexe Struktur. Aber obwohl es eine Vielzahl von Ebenen gibt und immer wieder zwischen den Ebenen gewechselt wird, bleibt es übersichtlich, denn Paul Auster beherrscht die Kunst, seine Leser durch sein Werk zu führen, und beweist dies in diesem Roman.

Das verknüpfende Element aller Ebenen ist der Ich-Erzähler. Es kann nur das berichtet werden, was ihm widerfährt. Nur sein Blickwinkel kann berücksichtigt werden. Er lässt einen aber auch Einblick nehmen in die Beweggründe, die ihn dazu bringen, gewisse Dinge zu tun bzw. zu schreiben.

Am Anfang ist das einfach, er kann problemlos erläuternd einschieben, dass er das Aussehen seiner Frau als Vorbild für das Erscheinungsbild der Frau wählt, in die sich der Protgonist der ersten Geschichte in einem Verlagsbüro auf den ersten Blick verliebt, da er seine eigene Frau in einem Verlagsbüro kennenlernte und es damals ebenfalls Liebe auf den ersten Blick war.

Auch die Wahl des Themas der ersten Geschichte, die der Ich-Erzähler in das blaue Notizbuch schreibt, kann er erklären. Bevor er mit dem Schreiben begann, berichtet der Ich-Erzähler, dachte er nämlich an ein vierzehn Tage zuvor geführtes Gespräch mit einem älteren Freund. In dem Gespräch ging es um eine Anekdote im »Malteser Falken« von Dashiell Hammett, die den perfekten Ausgangspunkt für eine sehr gute Geschichte darstellen würde. Es handelt sich um die Erzählung von dem Mann, der – knapp einem Unfalltod entronnen – erkennt, dass sein Leben nicht so läuft, wie es laufen könnte, aus seinem bisherigen Leben verschwindet und unter einer neuen Identität ein neues Leben beginnt. Im blauen Notizbuch soll diese Vorlage zu einem Roman ausgebaut werden.

Es beginnt auch recht vielversprechend. Die Geschichte ist fesselnd, etwas abgedreht, zum Teil verrückt, aber zunehmend spannend. Nach und nach wird der Hauptprotagonist in eine immer ausweglosere Situation hineingeführt, bis endlich auch der Ich-Erzähler, der Verfasser der Geschichte, einräumen muss: »Vielleicht gab es einen Ausweg, aber fürs Erste sah ich keinen. Das Einzige, was ich an diesem Morgen sehen konnte, war mein unglücklicher kleiner Held, der im Dunkel seines unterirdischen Zimmers auf Rettung wartete.«

Aber warum hat sich der Autor dabei so verrannt? Hatte er sich überhaupt verrannt oder sperrte er die Hauptperson – wenn vielleicht auch unbewusst – als Reaktion auf aktuelle Ereignisse und daraus erwachsene Befürchtungen absichtlich ein?

In dieser Richtung Beeinflussungen zu vermuten ist üblich. Ein Autor erhält Inspirationen aus seiner Umwelt und lässt dieses in sein Schreiben einfließen. Er verarbeitet die eigenen Erfahrungen in mehr oder weniger verschlüsselter Weise in seinem Werk.

Aber ist das wirklich alles?
Immer stärker wird der Eindruck, dass das Schreiben in dieses blaue Notizbuch mehr bedeutet…


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