Philippe Claudel: Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung
Am Heck eines Schiffes steht ein alter Mann. In seinen Armen hält er einen leichten Koffer und ein Neugeborenes, das noch leichter ist als der Koffer. Der alte Mann heißt Monsieur Linh. Nur er kennt seinen Namen, denn alle anderen, die ihn kannten, sind gestorben.
(Philippe Claudel: Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung, Hamburg: Rowohlt 2006, S. 7)
Mit diesem Absatz beginnt das meiner Meinung nach uneingeschränkt empfehlenswerte Buch von Philippe Claudel, das im Original allerdings passender mit „La petit fille des Monsieur Linh“, also „Die Enkeltochter des Monsieur Linh“, betitelt ist.
Das Buch ist außerdem eigentlich eher eine Erzählung, auch wenn „Roman“ auf dem Cover steht, denn auf lediglich 120 Seiten, noch dazu in recht großer Schrift, wird die Geschichte von Monsieur Linh erzählt, einem alten Mann, der nach einem verheerenden Bombenangriff seine Heimat verließ, um seiner Enkeltochter ein Leben fern vom Krieg zu ermöglichen und so von Indochina nach Frankreich kommt, eine ihm kalt und abweisend erscheinende Welt.
In den ersten Tagen wagt Monsieur Linh sich nicht aus der Flüchtlingsunterkunft heraus. Er hätte sich sicherlich aufgegeben, wäre da nicht seine Enkeltochter Sang diu, die ihn braucht. Liebevoll kümmert er sich um sie. Und als eine der Betreuerinnen anmerkt, dass das Kind blass sei und ihm ein Spaziergang sicherlich gut tun würde, überwindet er seine Angst und geht in die fremde Stadt hinaus.
So kann es zu der ersten Begegnung zwischen Monsieur Linh und Monsieur Bark kommen, einem Franzosen, der zwei Monate zuvor seine Frau verlor, aber noch immer zur gewohnte Zeit zu der Bank geht, auf der er bis dahin immer auf sie gewartet hat, wenn sie von der Arbeit kam:
Plötzlich merkt er, dass sie nicht mehr allein auf der Bank sind: Ein Mann hat sich neben sie gesetzt und sieht ihn und die Kleine an. Er muss ungefähr so alt sein wie Monsieur Linh, vielleicht etwas jünger. Er ist größer, dicker und trägt weniger Kleidung. Der Mann lächelt vorsichtig.
«Nicht gerade warm, was?»
Er haucht in seine Hände, nimmt eine Packung Zigaretten aus der Tasche und klopft mit einer gezielten Bewegung auf den Boden der Schachtel, sodass eine Zigarette hervorspringt. Er bietet sie Monsieur Linh an, der schüttelt den Kopf.
«Sie haben Recht», sagt der Mann, «ich sollte aufhören… Aber womit sollte man nicht alles aufhören!»
Behände steckt er sich die Zigarette zwischen die Lippen. Er zündet sie an, zieht lange daran und schließt die Augen.
«Das schmeckt einfach gut…», murmelt er schließlich.
Monsieur Linh versteht nichts von dem, was der Mann sagt, der sich da neben ihn gesetzt hat. Aber er spürt, dass seine Worte nicht boshaft sind.
(Philippe Claudel: Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung, Hamburg: Rowohlt 2006, S. 19)
Damit beginnt die außergewöhnliche Freundschaft zwischen diesen beiden Männern, die zwar beide von der Sprache des anderen jeweils nur ein Wort kennen, aber sich dennoch vom anderen verstanden fühlen. Ein Verständnis, das keiner Worte bedarf.
Augen mustern das merkwürdige Paar, den kleinen, alten Mann, der, dick eingepackt, so zerbrechlich wirkt, und den Riesen, der raucht wie eine Dampflok, und dann fällt der Blick auf Sang diu, die Monsieur Linh im Arm trägt wie eine Kostbarkeit, sein Ein und Alles.
Werden die Blicke feindselig oder zu aufdringlich, starrt Monsieur Bark seinerseits den Neugierigen an, zieht die Augenbrauen zusammen und seine Miene verdüstert sich. So sieht er ziemlich gefährlich aus. Monsieur Linh hat seinen Spaß daran. Der lästige Passant schlägt die Augen nieder und geht schnell weiter. Dann lachen Monsieur Bark und Monsieur Linh fröhlich.
(Philippe Claudel: Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung, Hamburg: Rowohlt 2006, S. 59 f.)
Doch allzu bald schon wird das Flüchtlingsheim aufgelöst und Monsieur Linh an einem anderen Ort untergebracht…
Wird Monsieur Linh wenigstens mit Sang diu zusammen bleiben dürfen?
Wird es Monsieur Linh gelingen Monsieur Bark wieder zu finden?
Das sind die Fragen, die auf den folgenden Seiten beantwortet werden.
Auch wenn ich im Verlauf des Buches und vor allem am Ende mehrmals und heftigst geweint habe, ist die Geschichte nicht nur traurig. Sie hat zwar einen schrecklichen Hintergrund und es gibt einige erschütternde Szenen. Aber Philippe Claudel gelingt es, den richtigen Ton zu treffen. Einen Ton, der einen zwar anrührt, aber nicht zu rührselig ist. Und die verwendete Klarheit und Nüchternheit der Sprache, erlaubt sentimentale Inhalte, ohne kitschig zu wirken.
Das Ergebnis ist die lesenswerte Geschichte einer grenzenlosen Liebe zu einem kleinen Mädchen sowie einer wunderbaren Freundschaft zweier Männer, die einfach deutlich macht, wie gut es ist, wenn man etwas hat, an das man glaubt und für das man lebt.