Lectrix – Notizen einer Leserin

12. Oktober 2007

Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt

Filed under: Daniel Kehlmann — Lectrix @ 8:15

In den letzten beiden Tagen habe ich dieses Buch gelesen. Es wurde mir von einem Arbeitskollegen geliehen, der überzeugt davon war, dass es mir gefallen würde. Er hatte Recht. Ich habe die Lektüre genossen.

Daniel Kehlmann gelingt es, dem Leser in einem Buch Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß auf angenehm lesbare Weise näher zu bringen, indem er eine Anekdote an die andere reiht, einige Begebenheiten dazu erfindet sowie einzelne Situationen überzeichnet und so gleichermaßen das Genie als auch die Eigenarten der beiden Hauptpersonen vermittelt.

Dass man viele der Anekdoten schon kennt, tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Eher im Gegenteil, denn Daniel Kehlmann erzählt sie sehr nett ausgeschmückt nach.

Zum Appetit machen je ein Beispiel:

Auf dem Weg nach Spanien vermaß Humboldt jeden Hügel. Er erklomm jeden Berg. Er klopfte Steinproben von jeder Felswand. Mit seiner Sauerstoffmaske erkundete er jede Höhle bis in die hinterste Kammer. […]
Er [Bonpland] begann sich zu wundern. Ob das denn nötig sei, fragte er, man sei schließlich auf der Durchreise, man wolle doch nur nach Madrid und wäre viel schneller dort, wenn man einfach nur hinritte, Herrgott noch mal.
Humboldt überlegte. Nein, sagte er dann, er bedauere. Ein Hügel, von dem man nicht wisse, wie hoch er sei, beleidige die Vernunft und mache ihn unruhig. Ohne stetig die eigene Position zu bestimmen, könne ein Mensch sich nicht fortbewegen. Ein Rätsel, wie klein auch immer, lasse man nicht am Wegesrand.
(Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, 17. Aufl., Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 2006, S. 41 f.)

und

Er habe sich jetzt entschieden, sagte Gauß.
Wofür? Bartels sah zerstreut auf.
Gauß seufzte ungeduldig. Für die Mathematik. Bisher habe er sich ja auf die klassische Philologie verlegen wollen, und noch immer gefalle ihm der Gedanke, einen Vergil-Kommentar zu schreiben, besonders über Aeneas‘ Abstieg in die Unterwelt. Seiner Ansicht nach habe keiner dieses Kapitel richtig erfaßt. Aber dafür sei ja noch Zeit, er sei schließlich erst neunzehn. Zunächst einmal habe er eingesehen, daß er in der Mathematik mehr leisten könne. Wenn man schon auf der Welt sein müsse, gefragt habe einen ja keiner, könne man auch versuchen, etwas zustande zu bringen. Zum Beispiel die Lösung der Frage, was eine Zahl sei. Die Grundlegung der Arithmetik.
Ein Lebenswerk, sagte Bartels.
Gauß nickte. Mit etwas Glück werde er in fünf Jahren fertig sein.
(Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt, 17. Aufl., Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 2006, S. 85 f.)

Durch die Gegenüberstellung der beiden Lebenswege und Ansichten werden sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten deutlich: Die empirische versus die rationalistische Erfassung der Welt – die beide gleichwohl Unverständnis von der Umwelt ernten, zwar zu großem Ruhm verhelfen, aber dennoch zu (innerer) Einsamkeit führen.

Herrlich eingefangen, die immense Welterkenntnis bei gleichzeitiger absoluter Weltfremdheit, die sowohl den Weltreisenden als auch den Daheimbleibenden verbinden.

Fazit:
Niveauvolle und zugleich unterhaltsame Lektüre.
Auch wenn ich etwas bedauerlich finde, wie schlecht Wilhelm von Humboldt (gemein) und Immanuel Kant (völlig verwirrt) wegkommen, kann ich das Buch nur weiterempfehlen.


16. September 2006

Daniel Kehlmann: Mahlers Zeit

Filed under: Daniel Kehlmann — Lectrix @ 17:00

David Mahler, ein dicker, kurzsichtiger, unter Asthma und Herzproblemen leidender, junger Physiker, beschäftigt sich bereits seit Jahren mit dem Sonderfall der Zeit. Während alle anderen Vorgänge des Universums zyklisch sind, soll allein die Zeit dies nicht sein – das besagt zumindest der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, dessen unumstößliche Gültigkeit er aber bezweifelt. Eines Nachts kommt er auf die Lösung.

David erschrak. Er fror. Für einen langen Moment wusste er nicht, wo er sich befand. Etwas war geschehen. Als wäre ein Riß durch ihn gegangen, als hätte ein Teil von ihm ihn verlassen; und plötzlich spürte er eine Bewegung: Etwas kam auf ihn zu. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Stoß von dreißig beschriebenen Blättern, bekritzelt in einer großen, zittrigen Schrift: leicht schiefe Kolonnen von Zahlen, Skizzen, Kurven, die sich in weiten Bögen über das Papier schlängelten, Diagramme, die keinen Sinn zu haben schienen, beschriftet mit Zeichen, die er hatte er erfinden müssen; aber all das war, wenn man es begriff, von leuchtend perfekter Klarheit.
(Daniel Kehlmann: Mahlers Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999, S. 14 f.)

David Mahler ist fest davon überzeugt, damit die vier Formeln gefunden zu haben, die zusammen den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik außer Kraft zu setzen vermögen. Nun muss er nur noch jemanden finden, der ihm glaubt und seine Entdeckung und ihre Tragweite nachvollziehen kann…

Soweit so gut und vielversprechend.

Daniel Kehlmann versucht in diesem Roman von da an, die Auflösung der Gerichtetheit und des gleichmäßigen Ablaufs der Zeit literarisch zu erfassen. Die Beschreibung der Versuche des Hauptakteurs seine Freundin, seinen besten Freund, seine Studenten und seinen Professor von seiner Entdeckung zu überzeugen, geraten dabei mit der Erzählung seiner Bemühungen Kontakt mit dem schon lange bewunderten Nobelpreisträger aufzunehmen durcheinander, sowie mit der Wiedergabe von Kindheitstraumata.

Eigentlich interessant gemacht. Eigentlich ein passender Ansatz.

Aber die Kindheitstraumata waren mir persönlich echt zu heftig – unnötig heftig.
Und Mahlers zunehmenden Verfolgungswahn fand ich eher anstrengend.

Das soll jetzt nicht heißen, dass ich das Buch nicht dennoch in kürzester Zeit verschlungen hätte und bis zum Ende gespannt war, ob es ihm gelingen würde, den Nobelpreisträger zu erreichen und seine Ideen dessen Überprüfung standhalten würden – oder ob er doch nur extreme psychologische Probleme und Wahrnehmungsstörungen hat.

Es soll aber deutlich machen, dass ich den Roman nur eingeschränkt weiter empfehlen kann.


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