Jose Saramago: Eine Zeit ohne Tod
… und wieder hat mich ein Buch von José Saramago überzeugt.
Erneut mit vielen Kommas, zum Teil recht eigenwilligem Satzbau und kaum Absätzen – dafür aber mit der Bereitschaft konsequenter weiterzudenken als man dies gemeinhin tut:
Der Silvesterabend hatte nicht den üblichen unheilvollen Rattenschwanz von Todesfällen nach sich gezogen, es war, als hätte die alte Atropos mit ihrem gefletschten Pferdegebiss beschlossen, ihre Schere für einen Tag ruhen zu lassen. Blut floss dennoch, und nicht zu knapp. Verwirrt, bestürzt, ihren Brechreiz mühsam unterdrückend zogen die Feuerwehrleute menschliche Körper aus den Trümmern, die nach der mathematischen Logik von Zusammenstößen mausetot hätten sein müssen, trotz der Schwere ihrer Verletzungen und der erlittenen Traumata jedoch noch immer am Leben waren und mit herzzerreißendem Sirenengeheul in die Krankenhäuser eingeliefert wurden. Keiner dieser Menschen sollte auf dem Weg dorthin sterben, und alle sollten die pessimistischen ärztlichen Prognosen widerlegen. Der arme Teufel hat keine Chance, man sollte ihn gar nicht erst operieren, wie beispielsweise der Chirurg zu der Krankenschwester sagte, während diese ihm den Mundschutz umband. Und tatsächlich hätte der Arme am Vortag vielleicht nicht gerettet werden können, doch an diesem Tag weigerte sich das Unfallopfer ganz entschieden zu sterben. Und was hier geschah, das geschah im ganzen Land.“
(José Saramago: Eine Zeit ohne Tod, übersetzt von Marianne Gareis, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 11 f.)
Anstatt sich also unnötig mit der Freude aufzuhalten, die die Menschen empfinden könnten, wenn sie feststellen, dass sie nicht mehr sterben, wendet sich José Saramago direkt den Problemen zu, die mit den ausbleibenden Todesfällen auf die Gesellschaft dieses Landes zu kommen: die Erbfolge gerät in Verzug, wenn die Königinmutter nicht stirbt + Krankenhäuser füllen sich, in Anbetracht der Akkumulation Todkranker und Schwerstverletzter + Familienangehörigen stehen nicht enden wollende Pflegezeiten der Alten bevor + den in der Beerdigungsbranche Beschäftigten (Totengräber, Sargtischler, Leichenbestatter) droht Arbeitslosigkeit+ Lebens- und Rentenversicherungen müssen sich etwas einfallen lassen und nicht zuletzt gerät die Kirche in eine existentielle Sinnkrise …
Welche Lösungen José Saramago Kirche, Versicherungen, Politik und Maphia (sic!) einfallen lässt, soll hier natürlich nicht vorab verraten werden. Sie spiegeln allerdings deutlich wider für wie korrupt und menschenverachtend er diese hält.
Verraten werden muss jedoch, dass José Saramago in diesem Fall nicht nur konsequent von einem einfachen Grundgedanken ausgehend – in „Stadt der Blinden“ „Alle Menschen werden blind.“ hier nun „Kein Mensch stirbt mehr.“ – ein Gedankenexperiment mit allen sich ergebenden Konsequenzen durchdenkt, sondern in diesem Roman auch noch ins Metaphysische / Phantastische wechselt und tod (sic!) personifiziert selbst auftreten und ihr Handeln begründen lässt.
Dadurch wird der Kreis derjenigen, für die dieses Buch zu empfehlen ist, sicherlich noch weiter eingeschränkt.
Mir hat es aber ausgesprochen gut gefallen, inbesondere da José Saramago nicht nur kritisch Gesellschaft und Politik vorführt sowie Respektlosigkeit religiösen Überzeugungen gegenüber an den Tag legt, sondern darüber hinaus auch eine ganze Menge Humor, eine herrliche Stelle voller Selbstironie und sogar eine gute Portion Romantik einfließen lässt.