Mark Twain: Tom Sawyers Abenteuer
Mitte April wurde im Deutschlandradio Kultur auf eine beachtenswerte Neuübersetzung von Mark Twains ‚Tom Sawyer‘ sowie ‚Huckleberry Finn“ aufmerksam gemacht, die gerade im Hanser Verlag erschienen ist. Dabei wurde vor allem gewürdigt, dass dem Übersetzer und Herausgeber Andreas Nohl gelungen wäre, die sprachlichen Besonderheiten und den Charakter der Erzählung tauglich ins Deutsche zu übertragen. Mein Interesse weckte jedoch insbesondere der Hinweis, dass zwar die meisten die Lausbubengeschichten um Tom Sawyer bereits als Kind gelesen bzw. zumindest die Verfilmung gesehen hätten, man jedoch erst bei der Lektüre dieser Erzählung als Erwachsener entdecken wird, dass Mark Twain in satirischer Weise ein Bild der rückständigen, rassistischen und abergläubischen Gesellschaft der amerikanischen Südstaaten liefert.
Bei nächster Gelegenheit erwarb ich deshalb die 2010 erschienene gebundene Ausgabe aus dem Carl Hanser Verlag, obwohl in den Buchhandlungen anlässlich des aktuell anstehenden 100. Todestages von Mark Twain auch etliche preiswertere Taschenbuchausgaben auslagen. An dieser Stelle sei bereits angemerkt, dass sich die Mehrinvestion nicht nur wegen der Neuübersetzung, sondern auch wegen des schönen Gesamteindrucks dieser Ausgabe sowie des ausführlichen Nachwortes und der zahlreichen Anmerkungen am Ende des Buches bezahlt macht.
Die Lektüre war hinsichtlich der enthaltenen Abenteuer – das sei zugegeben – nicht sonderlich spannend, denn selbstverständlich kennt man diese und ihren jeweiligen Ausgang. Als Beispiele seien an dieser Stelle genannt: wie Tom, die anderen Jungs dazu bringt, für ihn den Zaun zu streichen; wie Tom, sich den Bibel-Preis erschleicht; wie Tom mit Joe und Huckleberry Finn auf eine Insel fliehen und später ihrer eigenen Beerdigung beiwohnen; wie Tom und Huckleberry Finn Indianer Joe bei einem Mord auf dem Friedhof beobachten, den dieser jedoch einem anderen anzuhängen versucht; wie die beiden dann versuchen Indianer Joe seinen Schatz abzujagen und natürlich, wie Tom und Becky sich in der Höhle verirren… All das fiel mir spätestens wieder ein, wenn ich zu der jeweiligen Passage kam.
Umso interessanter war jedoch, was im Rahmen bzw. am Rande dieser für Kinder spannenden Handlungen nebenbei erzählt wird – wobei ich mich noch frage, ob ich als Kind einfach darüber hinweg las, weil ich es nicht verstand, oder ob es in der damaligen Kinderausgabe vorsorglich als nicht kindgerecht weggekürzt wurde…
Als Beispiel sei der ‚Prüfungstag‘ angeführt, bei dem dem Leser vorab schon angekündigt wird, dass die Schüler einen Komplott ausheckten, um sich an dem ihnen so verhassten Lehrer eindrucksvoll zu rächen. Natürlich wusste ich noch, dass der Lehrer den Rohrstock sehr schnell zur Hand hatte. Natürlich wusste ich noch, dass er ein tyrannisches Wesen hatte. Außerdem wusste ich noch, dass es den Jungen gelang, das Toupet des Lehrers während der öffentlichen Prüfungen von seinem Kopf zu angeln und ihn mit zuvor vergoldetem Haupt vor sämtlichen Honoratoren der Stadt bloß zu stellen. Aber an diese Passage dazwischen konnte ich mich nicht erinnern:
Und nun war der Höhepunkt des Abends an der Reihe – selbst verfasste Aufsätze der jungen Damen. Nacheinander traten sie an den Rand der Bühne, räusperten sich, hielten ihr Manuskript (mit hübschen Bändern gebunden) in die Höhe und begannen zu lesen, wobei sie sorgfältigst auf »Betonung« und »Satzzeichen« achteten. Die Themen waren die gleichen wie diejenigen, die bei ähnlichen Gelegenheiten schon von ihren Müttern, ihren Großmüttern und zweifellos von sämtlichen weiblichen Vorfahren bis zurück zu den Kreuzzügen erschöpfend behandelt worden waren. »Freundschaft« lautete eines; »Erinnerungen an verflossene Tage«; »Religion in der Geschichte«; »Traumland«; »Die Überlegenheit der Kultur«; »Vergleich und Gegenüberstellung unterschiedlicher Regierungsformen«; »Melancholie«; »Kindesliebe«; »Sehnsucht des Herzens« usw. usf.
Ein hervorstechendes Merkmal dieser Aufsätze war die liebevoll gehegte und gepflegte Missgelauntheit, ein anderes der verschwenderische und überschäumende Erguss »guten Stils«, ein weiteres die Neigung, besonders gewählte Worte und Phrasen an den Haaren herbeizuzerren, bis sie vollkommen abgedroschen waren. Und eine Besonderheit, die sie kennzeichnete und verunstaltete, war die unvermeidliche und schwer zu ertragende Moralpredigt, die am Ende eines jeden Aufsatzes mit ihrem verkrüppelten Schwanz wedelte. Gleichgültig, um welches Thema es ging, es wurde in einer hirnmarternden Anstrengung so hingebogen, dass das sittliche und fromme Gemüt sich daran erbauen konnte. Die schreiende Heuchelei dieser Moralpredigten war jedoch kein Grund, diesen Brauch von der Schule zu verbannen, und sie ist es bis heute nicht. Sie wird es wahrscheinlich nie sein, solange die Welt besteht. Es gibt keine Schule in unserem Land, wo die jungen Damen sich nicht genötigt sehen, ihre Aufsätze mit einer Moralpredigt abzuschließen. Und man wird feststellen, dass die Moral des leichtfertigsten und am wenigsten frommen Mädchens stets die längste und frömmlerischste ist. Doch genug hiervon. Die schlichte Wahrheit ist ungenießbar.
Kehren wir zur »Prüfung« zurück. Der erste Aufsatz, der vorgelesen wurde, trug den Titel: »Ist dies tatsächlich das Leben?«
(Mark Twain: Tom Sawyers Abenteuer, in: Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn, hrsg. und übersetzt von Andreas Nohl, München: Carl Hanser Verlag 2010, S. 161f.)
Hier argwöhne ich, dass in einer gekürzten Fassung dabei einfach der Abschnitt zwischen, „Und nun war der Höhepunkt des Abends an der Reihe – selbst verfasste Aufsätze der jungen Damen. Nacheinander traten sie an den Rand der Bühne, räusperten sich, hielten ihr Manuskript (mit hübschen Bändern gebunden) in die Höhe und begannen zu lesen, wobei sie sorgfältigst auf »Betonung« und »Satzzeichen« achteten.“ und „Der erste Aufsatz, der vorgelesen wurde, trug den Titel: »Ist dies tatsächlich das Leben?«“ fortgelassen wurde. Ich bin aber nicht sicher.
So geht es mir während der Lektüre an etlichen Stellen – und stets werden diese Einschübe von mir als wertvolle Randbemerkungen empfunden.
Bei anderen Passagen fürchte ich jedoch, dass sie auch in der Kinderausgabe enthalten waren, von mir jedoch – im Rückblick erschreckend – nicht als zu problematisierende Szenen wahrgenommen wurden. Hierzu als Beispiel einen Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen Tom und Huckleberry Finn, in dem sich selbst die Sympathieträger der Geschichte ganz nebenbei als völlig vom rassistischen Gedankengut ihrer Gesellschaft durchdrungen zeigen:
»Klingt gut. Und wo willst Du dann schlafen?«
»In Ben Rogers Heuboden. Er hat nichts dagegen und auch der Uncle Jake, der Nigger von seinem Pa, nicht. Ich schlepp immer Wasser für Uncle Jake, wenn er will, und jedes Mal, wenn ich ihn frage, gibt er mir was zu essen ab, wenn er’s übrig hat. Das ist ein wahnsinnig netter Nigger, Tom. Er mag mich, weil ich nie so tu, als ob ich was Bessres wäre als er. Manchmal setze ich mich sogar zu ihm und ess mit ihm. Aber das musst Du nicht weitersagen. Man tut manchmal Sachen, wenn man sehr hungrig ist, die man sonst nicht tun würde.«
(Mark Twain: Tom Sawyers Abenteuer, in: Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn, hrsg. und übersetzt von Andreas Nohl, München: Carl Hanser Verlag 2010, S. 203)
Mit dem Abstand etlicher Jahre und in dieser Zeit sensibilisiert für gewisse Themen liest man Tom Sawyers Abenteuer so auf völlig neue Weise.
Ich kann die (erneute?) Lektüre dementsprechend jedem nur empfehlen.