Lectrix – Notizen einer Leserin

19. Januar 2007

Jonathan Carroll: Wenn Engel Zähne zeigen

Filed under: Jonathan Carroll — Lectrix @ 11:11

Weil mir der Roman Schlaf in den Flammen so gut gefiel, schaute ich mich in der Bibliothek nach weiteren Büchern von Jonathan Carroll um und stieß dabei auf dieses. Bevor ich mit der Lektüre begann wusste ich von dem Roman darum nicht mehr, als das er von Jonathan Carroll ist, und wurde somit von der doch recht heftigen Thematik kalt erwischt, denn in diesem Buch geht es vor allem um das Sterben. Nichtsdestotrotz gefällt mir auch diese Geschichte sehr gut. Rationalisten seien jedoch vorgewarnt: In diesem Roman gibt es viele metaphysische, tranzendentale bzw. paranormale Aspekte.

»Warum wollen Sie mit mir reden?«
»Weil McGann gesagt hat, daß Sie kommen würden und daß wir wichtig füreinander sind.«
Ich spitzte die Ohren. »Er hat es gewußt? Woher denn?«
»In einem Traum hat er gesehen, daß Sie hier bei mir in Wien sein würden. Er hat auch gewußt, daß ich nach ihm suchen würde. Neben dem Schlimmen sind seine Träume jetzt auch prophetischer geworden. So wie er aussieht und spricht, erinnert er an einen griechischen Propheten. Wie Theresias in Ödipus. In diesen alten Geschichten sind Seher fast immer blind oder sonst irgendwie behindert. So wird es ihnen möglich, Dinge zu sehen und zu begreifen, die unsereins nicht sehen und begreifen kann.«
»Was hat er über mich gesagt?«
»Er hat Sie bis ins Detail beschrieben und gesagt, Sie würden zur Zeit meiner Rückkehr in Wien sein. Ich schwöre Ihnen, ich hatte keine Ahnung, dass ihr beide kommt, Sie und Sophie.«
»Warum? Warum träumt er jetzt von mir?«
»Weil Sie der einzige Mensch sind, der mich retten kann, Wyatt. Sie sind der einzige Mensch, der verhindern kann, daß die Träume mich töten. «
»Wie denn?«
»Indem Sie den Tod finden. Das wollen Sie doch sowieso, nicht wahr? Deshalb sind sie doch mit Sophie hergekommen.«
(Jonathan Carroll: Wenn Engel Zähne zeigen, Wien/München: Europa Verlag 1995, S. 114f.)

Im Rahmen dieser Beschreibung will ich natürlich nicht das Ende verraten. An dieser Stelle sei nur angedeutet, dass es kein Happy End gibt. Das würde auch nicht zum Buch passen. Jonathan Carroll gelingt es aber, zu einem versöhnlichen Abschluss zu kommen, sowie eine wunderbare Erklärung zu liefern, warum der Engel Zähne zeigt.


15. Januar 2007

Jörg Kastner: Die Farbe Blau

Filed under: Jörg Kastner — Lectrix @ 16:30

Mit Genuß habe ich diesen Roman gelesen, dessen Handlung im Amsterdam der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts angesiedelt ist, welches sinnenreich und in flüssigem Stil nahezu plastisch beschrieben wird.

Es handelt sich vorrangig um einen Krimi. Nebenbei wird aber auch viel zum Leben und Wirken des Malers Rembrandt vermittelt sowie über die allgemeinen Lebensumstände in dessen Zeit. Ich hoffe, dass „echte“ Biographen Jörg Kastner seine Darstellung und Interpretation nicht verübeln. Mir hat der in gewisser Hinsicht doch eher respektlose Zugang gefallen.

Die Geschichte wird von dem Ich-Erzähler Cornelis Bartholomeusz Suythoff berichtet, der selbst gerne Maler wäre, doch seinen Lebensunterhalt nicht durch das Malen bestreiten kann und deshalb zu Beginn der Ereignisse als Zuchthausaufseher arbeitet. Sein Kollege Ossel schmuggelte ein Gemälde in die Zelle eines reichen Bürgers, der verhaftet wurde, weil er seine Familie auf grausame Weise ermorderte. Da der Zelleninsasse in der Nacht darauf seinerseits Selbstmord beging, muss das Bild unauffällig wieder an seinen angestammten Ort gebracht werden. Bei dieser Gelegenheit fällt dem Ich-Erzähler etwas Ungewöhnliches auf:

»Jeder Maler hinterläßt seinen Namen oder wenigstens sein Zeichen auf dem Bild. Das verlangt der Stolz ebenso wie die Geschäftstüchtigkeit. Schließlich ist ein Maler auf weitere Aufträge angewiesen. Die Leute müssen also wissen, von wem das Werk stammt, das sie betrachten. Hier kann ich aber keine Signatur entdecken, beim besten Willen nicht.«
»Vielleicht war der Maler in diesem Fall nicht eben stolz auf sein Werk«, mutmaßte Ossel und ließ sich auf einen Stuhl nieder, der unter dem Gewicht erschrocken knarrte.
»Das glaube ich nicht. Es ist ein gutes Bild. Sieh hier, wie das Licht auf die Gesichter der Kinder fällt, das ist meisterhaft!«
Ossel beugte sich über den Tisch und starrte mit großen Augen auf das Bild. »Also, ich hätte das anders gemacht.«
»Was meinst Du?«
»Die wichtigste Person auf dem Bild ist doch der Blaufärber. Er dürfte es schließlich in Auftrag gegeben haben. Also sollte das Licht auf ihn fallen und nicht auf die Kinder. Der Maler ist ein Stümper. Kein Wunder, daß er seinen Namen nicht aufs Bild gekritzelt hat.«
Ich blickte Ossel empört an. »Du hast verdammt keine Ahnung von der Malerei, Ossel. Gerade diese Lichtgebung hat mich fasziniert. Ich finde es sehr ausgeklügelt, daß der Blick des Betrachters zuerst auf die Kinder gelenkt wird. Die schauen ihren Vater an, und dadurch wird dessen Stellung erst besonders hervorgehoben. Wäre das Bild in anderen Farben, würde ich es Meister Rembrandt zuordnen.«
(Jörg Kastner: Die Farbe Blau, München: Knaur 2005, S. 33 f.)

Aber das Bild ist nicht in Rembrandts bevorzugten Farben gemalt, die da sind „Weiß, Schwarz, Gelbocker und ein irdenes Rot“, sondern „in verschiedenen Schattierungen eines eindringlichen Blaus“…


12. Januar 2007

Gerd Scherm: Der Nomadengott

Filed under: Gerd Scherm — Lectrix @ 18:00

Wir befinden uns im Jahr 1500 vor unserer Zeitrechnung im ägyptischen Theben im dritten Jahr der Regentschaft des Pharaos Ahmose, der allenfalls davon träumt, Begründer des Neuen Reiches und der 18. Dynastie zu werden.
Zum Leidwesen aller an dieser Geschichte Beteiligten ist Theben an diesem Tag noch nicht das große Theben, daß es schon bald sein wird. Fast alle prachtvollen Tempel und Paläste existieren nicht einmal in der Fantasie noch nicht geborener Pharaonen. Schade, aber die Geschichte beginnt trotzdem jetzt im Zentrum des südlichen Oberägypten, wo in erster Linie der Gott Amun das Sagen hat, gefolgt von weiteren Göttern und dem Pharao Ahmose. Wobei der Letztere sagt, was die zu tun haben, die keine Götter sind.
(Gerd Scherm: Der Nomadengott, München: Heyne 2006, S. 13)

So beginnt die gelungene Parodie, die ich in den letzten Tagen meinem Lebenspartner vorlas und die uns beiden viel Vergnügen bereitete, denn Gerd Scherm liefert in diesem Buch eine äußerst humorvolle Parallelgeschichte zu dem aus der Bibel bekannten Exodus der Israeliten aus Ägypten, mit durchaus überraschenden Erklärungen einiger Phänomene…

GON, den zwar kleinen, aber dafür umso pragmatischer denkenden Gott ohne Namen, muss man als Leser im Übrigen einfach gern haben. Um einen ersten Eindruck von ihm zu vermitteln, als Beispiel ein Ausschnitt aus der Szene zur Aufstellung der Heiligen Gesetze:

Seshmosis: »Willst du mir jetzt nicht Gesetze oder so was übergeben? Auf Tontafeln graviert? Oder schön in Gold gearbeitet? Oder von deinem Heiligen Käfer auf Papyrus geschrieben?«
GON: »Warum Ton? Wer sollte die Schrift hineinritzen? Wieso Gold? Wozu diese Verschwendung? Und dann die Diebstahlgefahr! Und wieso sollte ich meinen Käfer arbeiten lassen? Wozu? Du bist so ziemlich der Einzige in deinem Stamm, der lesen und schreiben kann. Was denkst du, warum ich mir einen Schreiber ausgesucht habe?«
Seshmosis: »Ach so, du diktierst, und ich schreibe? Was soll ich denn schreiben? […]«
GON: »Ich glaube, du hast etwas Bestimmtes im Kopf, was ICH sagen soll.«
Seshmosis: »Nun, ich habe da von einem anderen Stamm gehört, der im Norden im Delta lebt. Ihre Anführer sind die Brüder Aaron und Moses, und die wollen so eine Art Hyksos-Gesetze verbreiten. Sozusagen Stammesidentität durch gemeinsame Glaubensregeln. Man sagt, sie bekommen die Anregungen von einem Gott namens Schasu-YHW, der ein Sturm- und Kriegsgott der Midianiter ist. […] Und da wir auch Hyksos sind, dachte ich mir, wir könnten vielleicht von den nördlichen Stämmen etwas übernehmen.«
GON: »Ich bin Anregungen gegenüber nie abgeneigt. Besser gut geklaut als schlecht erfunden. Was sagt denn der Kollege so?«
(Gerd Scherm: Der Nomadengott, München: Heyne 2006, S. 142-144)

Welche der zehn Gebote GON mit welchen Einschränkungen zu übernehmen bereit ist , welche er warum ablehnt, und wie er seinem Stamm auf dessen Flucht beisteht, sollte jedoch jeder, dem die bisherigen Zitate gefielen, selbst lesen.

Die Lektüre dieses Buch ist auf jeden Fall ein herrlich kurzweiliger Zeitvertreib.


11. Januar 2007

Philippe Claudel: Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung

Filed under: Philippe Claudel — Lectrix @ 7:35

Am Heck eines Schiffes steht ein alter Mann. In seinen Armen hält er einen leichten Koffer und ein Neugeborenes, das noch leichter ist als der Koffer. Der alte Mann heißt Monsieur Linh. Nur er kennt seinen Namen, denn alle anderen, die ihn kannten, sind gestorben.
(Philippe Claudel: Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung, Hamburg: Rowohlt 2006, S. 7)

Mit diesem Absatz beginnt das meiner Meinung nach uneingeschränkt empfehlenswerte Buch von Philippe Claudel, das im Original allerdings passender mit „La petit fille des Monsieur Linh“, also „Die Enkeltochter des Monsieur Linh“, betitelt ist.

Das Buch ist außerdem eigentlich eher eine Erzählung, auch wenn „Roman“ auf dem Cover steht, denn auf lediglich 120 Seiten, noch dazu in recht großer Schrift, wird die Geschichte von Monsieur Linh erzählt, einem alten Mann, der nach einem verheerenden Bombenangriff seine Heimat verließ, um seiner Enkeltochter ein Leben fern vom Krieg zu ermöglichen und so von Indochina nach Frankreich kommt, eine ihm kalt und abweisend erscheinende Welt.

In den ersten Tagen wagt Monsieur Linh sich nicht aus der Flüchtlingsunterkunft heraus. Er hätte sich sicherlich aufgegeben, wäre da nicht seine Enkeltochter Sang diu, die ihn braucht. Liebevoll kümmert er sich um sie. Und als eine der Betreuerinnen anmerkt, dass das Kind blass sei und ihm ein Spaziergang sicherlich gut tun würde, überwindet er seine Angst und geht in die fremde Stadt hinaus.

So kann es zu der ersten Begegnung zwischen Monsieur Linh und Monsieur Bark kommen, einem Franzosen, der zwei Monate zuvor seine Frau verlor, aber noch immer zur gewohnte Zeit zu der Bank geht, auf der er bis dahin immer auf sie gewartet hat, wenn sie von der Arbeit kam:

Plötzlich merkt er, dass sie nicht mehr allein auf der Bank sind: Ein Mann hat sich neben sie gesetzt und sieht ihn und die Kleine an. Er muss ungefähr so alt sein wie Monsieur Linh, vielleicht etwas jünger. Er ist größer, dicker und trägt weniger Kleidung. Der Mann lächelt vorsichtig.
«Nicht gerade warm, was?»
Er haucht in seine Hände, nimmt eine Packung Zigaretten aus der Tasche und klopft mit einer gezielten Bewegung auf den Boden der Schachtel, sodass eine Zigarette hervorspringt. Er bietet sie Monsieur Linh an, der schüttelt den Kopf.
«Sie haben Recht», sagt der Mann, «ich sollte aufhören… Aber womit sollte man nicht alles aufhören!»
Behände steckt er sich die Zigarette zwischen die Lippen. Er zündet sie an, zieht lange daran und schließt die Augen.
«Das schmeckt einfach gut…», murmelt er schließlich.
Monsieur Linh versteht nichts von dem, was der Mann sagt, der sich da neben ihn gesetzt hat. Aber er spürt, dass seine Worte nicht boshaft sind.
(Philippe Claudel: Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung, Hamburg: Rowohlt 2006, S. 19)

Damit beginnt die außergewöhnliche Freundschaft zwischen diesen beiden Männern, die zwar beide von der Sprache des anderen jeweils nur ein Wort kennen, aber sich dennoch vom anderen verstanden fühlen. Ein Verständnis, das keiner Worte bedarf.

Augen mustern das merkwürdige Paar, den kleinen, alten Mann, der, dick eingepackt, so zerbrechlich wirkt, und den Riesen, der raucht wie eine Dampflok, und dann fällt der Blick auf Sang diu, die Monsieur Linh im Arm trägt wie eine Kostbarkeit, sein Ein und Alles.
Werden die Blicke feindselig oder zu aufdringlich, starrt Monsieur Bark seinerseits den Neugierigen an, zieht die Augenbrauen zusammen und seine Miene verdüstert sich. So sieht er ziemlich gefährlich aus. Monsieur Linh hat seinen Spaß daran. Der lästige Passant schlägt die Augen nieder und geht schnell weiter. Dann lachen Monsieur Bark und Monsieur Linh fröhlich.
(Philippe Claudel: Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung, Hamburg: Rowohlt 2006, S. 59 f.)

Doch allzu bald schon wird das Flüchtlingsheim aufgelöst und Monsieur Linh an einem anderen Ort untergebracht…

Wird Monsieur Linh wenigstens mit Sang diu zusammen bleiben dürfen?
Wird es Monsieur Linh gelingen Monsieur Bark wieder zu finden?
Das sind die Fragen, die auf den folgenden Seiten beantwortet werden.

Auch wenn ich im Verlauf des Buches und vor allem am Ende mehrmals und heftigst geweint habe, ist die Geschichte nicht nur traurig. Sie hat zwar einen schrecklichen Hintergrund und es gibt einige erschütternde Szenen. Aber Philippe Claudel gelingt es, den richtigen Ton zu treffen. Einen Ton, der einen zwar anrührt, aber nicht zu rührselig ist. Und die verwendete Klarheit und Nüchternheit der Sprache, erlaubt sentimentale Inhalte, ohne kitschig zu wirken.

Das Ergebnis ist die lesenswerte Geschichte einer grenzenlosen Liebe zu einem kleinen Mädchen sowie einer wunderbaren Freundschaft zweier Männer, die einfach deutlich macht, wie gut es ist, wenn man etwas hat, an das man glaubt und für das man lebt.


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