Erstaunlich.
Erstaunlich, wie spannend ein Roman sein kann, bei dem man große Teile des Ablaufs des Geschehens schon vor der ersten Lektüre kennt.
Und falls es unter den Lesern doch jemanden geben sollte, der nicht weiß, dass der Vesuv am 24.8.79 n.Chr. ausbrach, weist Robert Harris durch die Überschriften der vier Teile des Buches ausdrücklich auf die Chronologie hin:
- „Mars – 22. August – Zwei Tage vor dem Ausbruch“
- „Merkur – 23. August – Der Tag vor dem Ausbruch“
- „Jupiter – 24. August – Der Tag des Ausbruchs“
- „Venus – 25. August – Der letzte Tag des Ausbruchs“
Aber das tut der Spannung, wie eingangs bereits erwähnt, keinen Abbruch. Eher im Gegenteil. Dadurch dass die Kapitel zudem nach den Stunden benannt sind, wird die Stimmung einer tickenden Zeitbombe erzeugt.
Denn auch wenn der Leser sich erinnert, dass Pompeji, Herculaneum, Oplontis und Stabiae damals verschüttet wurden und der größte Teil der Bevölkerung dieser Orte entweder direkt oder auf der Flucht dem Ausbruch zum Opfer fiel, nutzt Robert Harris geschickt, dass die damaligen Bewohner der Region und somit auch die Protagonisten seines Romans, das nicht wussten.
Und so ergreift der Wasserbaumeister Attilius als er erst ein Nachlassen des Wasserdrucks und dann eine erhöhte Schwefelkonzentration im über das Aquädukt Aqua Augusta kommende Wasser bemerkt, nicht etwa die Flucht, sondern macht sich stattdessen auf den Weg, um die Ursache der Schwierigkeit zu ergründen und die Wasserversorgung der Städte am Golf von Neapel sicher zu stellen.
Und so schickt Attilius die Frau, in die er sich verliebt hat, am Morgen des Tages des Ausbruchs vom Fuße des Vesuv, wo er die mysteriös – durch Magma – zerstörte Wasserleitung reparierte, nach Pompeji:
»[…] Außerdem ist das nicht so wichtig. Die Hauptsache ist, dass du von hier fortkommst. Irgendetwas passiert mit dem Berg. Ich weiß nicht, was es ist. Exomnius hat es schon vor Wochen vermutet. Es ist, als…« Er brach ab. Er wusste nicht, wie er es in Worte fassen sollte. »Es ist, als – als würde er lebendig. In Pompeji wirst du sicherer sein.«
Sie schüttelte den Kopf. »Und was wirst du tun?«
»Nach Misenum zurückkehren. Dem Befehlshaber Bericht erstatten. Wenn irgendjemand einen Sinn in das hineinbringen kann, was hier passiert, dann er.«
(Robert Harris: Pompeji, München: Heyne, 2003, S. 251)
Und so kommt es, dass Attilius mit an Bord des Schiffes ist, auf dem Plinius am 24. August in den Golf von Neapel hinein segelt, um das Ereignis genauer beobachten zu können:
Plinius umklammerte die Armlehnen seines Stuhls, zu überwältigt, um etwas zu sagen. Doch dann erinnerte er sich an seine Pflicht gegenüber der Wissenschaft. »Jenseits von Pausilypon«, diktierte er zögernd, »sind der gesamte Vesuv und die ihn umgebende Küste vollständig von einer driftenden Wolke verhüllt, weißlich grau und von schwarzen Streifen durchzogen!« Aber das war zu nichtssagend, dachte er; er musste einen Eindruck von Ehrfurcht erwecken. »Darüber hinausragend, sich wölbend und entrollend, als würden die heißen Eingeweide der Erde herausgezerrt und himmelwärts gezogen, erhebt sich die zentrale Säule der Manifestation.« Das war besser. »Sie wächst«, fuhr er fort, »als würde sie von einer ununterbrochenen Explosion angetrieben. Aber in ihrem oberen Teil wird das Gewicht der ausgestoßenen Materie zu groß; sie sinkt ab und dehnt sich seitwärts aus. Ist das auch deine Meinung, Aquarius?«, rief er. »Ist es das Gewicht, dass die Verbreiterung bewirkt?«
»Das Gewicht, Befehlshaber«, rief er zurück. »Oder der Wind.«
»Ja, das leuchtet ein. Füg das hinzu, Alexion. In größerer Höhe scheint der Wind stärker zu sein, und er treibt die Manifestation nach Südosten.« Er wandte sich an Torquatus. »Wir sollten uns diesen Wind zunutze machen! Lass die Segel setzen!«
(Robert Harris: Pompeji, München: Heyne, 2003, S. 318)
Alles in allem eine sehr spannende Schilderung der Katastrophe, die sich 79 n.Chr. am Vesuv ereignete und darüber hinaus ein sehr interessanter Roman zur römischen Antike, in dem zum Einen die beeindruckenden Errungenschaften der Römer im Bereich der Wasserversorgung anschaulich beschrieben werden und Plinius ein Denkmal gesetzt wird, zum Anderen aber auch die krassen sozialen Missstände und die Dekadenz der Reichen – und insbesondere der Neureichen – vorgeführt wird.
Abschließen möchte ich diesen Beitrag mit dem Zitat einer herrlich ironischen Passage, die sich Robert Harris an einer Stelle erlaubt. Während sich allmählich immer mehr Bewohner Pompejis doch beginnen Sorgen zu machen, bemüht sich ein ‚Investor‘, die führenden Politiker durch die Bekanntgabe dieser Prophezeiung zu beschwichtigen:
Ampliatus stellte eine angemessen feierliche Miene zur Schau. »Sie hat Sabazius Schlangen geopfert und sie dann abgehäutet, um ihre Bedeutung zu erkennen. Ich war die ganze Zeit dabei.« Er erinnerte sich an die Flammen auf dem Altar, den Rauch, die glitzernden Hände, den Weihrauch, die zittrige Stimme der Sybille: Schrill, kaum menschlich war sie gewesen […]. Der ganze Vorgang hatte ihn wider Willen beeindruckt. »Sie hat eine Stadt gesehen – unsere Stadt -, viele Jahre später. Tausend Jahre später, vielleicht sogar mehr.« Er dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern. »Sie hat eine Stadt gesehen, die in der ganzen Welt berühmt ist. Unsere Tempel, unser Amphitheater, unsere Straßen – überall wimmelte es von Menschen jeder Sprache. Das war es, was sie in den Eingeweiden der Schlangen gesehen hat. Was wir hier gebaut haben, wird fortdauern – noch lange nachdem die Caesaren zu Staub zerfallen und das Imperium untergegangen ist.«
(Robert Harris: Pompeji, München: Heyne, 2003, S. 268)