Lectrix – Notizen einer Leserin

19. Januar 2013

Paullina Simons – Die Liebenden von Leningrad

Filed under: Paullina Simons — admin @ 23:30

Der Roman „Die Liebenden von Leningrad“ mit dem Untertitel „Tatiana und Alexander – eine unvergessliche Liebe“ von Paullina Simons wurde mir mit der Frage geliehen, ob ich eigentlich auch „schnulzige Wälzer“ mögen würde. Ich reagierte darauf zwar etwas zurückhaltend, nahm das dicke Buch aber dennoch in die Hand und überflog die ersten Seiten: Der Schreibstil machte einen angenehm lesbaren Eindruck und so nahm ich es mit.

Noch am gleichen Abend las ich das Buch dann probehalber an und der Anfang gefiel mir gut. Der Autorin gelingt es im ersten Kapitel nicht nur, nebenbei Einblicke in die Lebensumstände in Russland Mitte des 20. Jahrhunderts zu vermitteln, sondern auch überzeugend, die so unterschiedlichen Reaktionen auf die Radiomeldung bezüglich des Angriffes der Deutschen, von Seiten der verschiedenen Generationen wiederzugeben und nachvollziehbar zu machen:

Ihr Vater sagte gar nichts, sondern stellte das Radio an.
In dem langen, schmalen Zimmer gab es das Doppelbett von Tatjana und Dascha, ein Sofa, auf dem Papa und Mama schliefen, und ein niedriges Eisenbett für Tatjanas Zwillingsbruder Pascha. Es stand am Fußende des Bettes der Mädchen und Pascha bezeichnete sich selbst immer als ihren kleinen Schoßhund.
Tatjanas Großeltern, Babuschka und Deda, wohnten im Zimmer nebenan, das mit ihrem durch einen kleinen Flur verbunden war. […]
Aus dem Radio drangen klickende Geräusche. Es war 12:30 Uhr am 22. Juni 1941.
»Tania, sei ruhig und setz dich«, befahl Papa seiner Tochter. »Sie fangen an. Irina, setz dich auch hin.«
Genosse Wjatschelaw Molotow, Joseph Stalins Außenminister, begann:
»Männer und Frauen, Bürger der Sowjetunion – die sowjetische Regierung und ihr Präsident, Genosse Stalin, haben mich angewiesen, Folgendes bekannt zu geben. Um vier Uhr morgens haben deutsche Streitkräfte den Krieg in unser Land gebracht, ohne dass der Sowjetunion irgendeine Begründung oder Kriegserklärung übermittelt wurde. Kiew, Sebastopol, Kowno und andere Städte wurden bombardiert. Der Angriff gegen die Sowjetunion wurde trotz der Tatsache unternommen, dass zwischen Deutschland und Russland ein Nichtangriffspakt besteht. […] Die Regierung fordert euch, Männer und Frauen der Sowjetunion, auf, euch noch stärker der gloreichen bolschewistischen Partei, der sowjetischen Regierung und unserem großen Führer, dem Genossen Stalin, zu verpflichten. Unsere Sache ist gerecht. Wir werden den Feind zermalmen. Der Sieg wird unser sein.«
Im Radio wurde es still und die Familie saß schweigend und wie erstarrt da.
Schließlich sagte Papa: »Oh, mein Gott.« Er starrte Pascha an.
Mama sagte: »Wir müssen sofort unser Geld von der Bank holen.«
Babuschka Anna sagte: »Nicht schon wieder eine Evakuierung! Noch mal überleben wir das nicht. Wir sollten besser in der Stadt bleiben.«
Deda sagte: »Ob ich wohl noch einmal eine Stelle als Lehrer bekomme? Ich bin fast vierundsechzig. Es ist eher Zeit zu sterben, als schon wieder weiterzuziehen.«
Dascha sagte: »Die Garnison in Leningrad zieht nicht in den Krieg, nicht wahr? Oder müssen sie auch in den Krieg?«
Pascha sagte: »Krieg! Tania, hast Du das gehört? Ich melde mich freiwillig. Ich kämpfe für Mütterchen Russland.«
Bevor Tatiana antworten konnte, sprang ihr Vater auf und schrie Pascha an: »Was denkst du dir? Wer soll dich denn nehmen?«
»Ach, komm, Papuschka«, erwiderte Pascha lächelnd. »Gute Männer werden im Krieg immer gebraucht.«
»Gute Männer ja, aber keine Kinder«, fuhr Papa ihn an und kniete sich auf den Boden, um unter Daschas und Tatianas Bett zu schauen.
»Krieg! Das ist doch nicht möglich«, sagte Tatiana langsam. »Hat Genosse Stalin nicht einen Friedensvertrag unterzeichnet?«
Mama schenkte Tee ein und erwiderte: »Tania, es ist die Wahrheit. Es ist wirklich wahr.«
Tatiana versuchte, die Begeisterung in ihrer Stimme zu unterdrücken, als sie fragte: »Werden wir … evakuiert
Papa zog einen alten, schäbigen Koffer unter dem Bett hervor.
»So schnell schon?«, fragte Tatiana.
Sie kannte die Evakuierung aus den Geschichten, die Deda und Babuschka ihr von den unruhigen Zeiten während der Revolution von 1917 erzählt hatten, als sie in den Ural in ein Dorf gezogen waren, dessen Namen sich Tatiana nie merken konnte. Wie sie mit all ihren Habseligkeiten auf den Zug gewartet, sich hineingedrängt hatten und schließlich mit einem Boot über die Wolga gefahren waren… […]
Der Gedanke an die Evakuierung erfüllte Tatiana mit großer Aufregung. Sie war 1924, im Jahr von Lenins Tod, zur Welt gekommen, nach der Revolution, nach dem Hunger, nach dem Bürgerkrieg. Sie hatte die schlimmen Ereignisse nicht miterlebt, aber was jetzt bevorstand, war gewiss nicht weniger schrecklich.
Deda blickte sie mit seinen schwarzen Augen prüfend an und fragte: »Tanuschka, was denkst du gerade?«
Sie versuchte gleichmütig zu wirken. »Nichts.«
»Was geht in deinem Kopf vor? Es ist Krieg. Verstehst du?«
»Ich verstehe.«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, das tust du nicht.« Deda schwieg. »Tania, das Leben, wie du es kennst, ist jetzt vorbei. Denk an meine Worte. Von diesem Tag an wird nichts mehr so sein, wie es mal war.«
[Paullina Simons: Die Liebenden von Leningrad, aus dem Englischen übersetzt von Magarethe von Pée, o.A.d.O.: Ungekürzte Lizenzausgabe der RM Buch und Medien Vertrieb GmbH 2002, S. 15-20]

Das weitere Buch lässt den Leser dies anschaulich miterleben.
Neben gut eingefangenen, beispielhaften Szenen, gibt es auch eine Reihe historischer Informationen, die die Zusammenhänge verständlich machen.

Von der bisherigen Beschreibung sollte man sich aber nicht täuschen lassen,
denn auch wenn der Roman all das enthält, handelt es sich eindeutig nicht um ein Geschichtsbuch, sondern um eine Liebesgeschichte.

Sehr romantisch fand ich denn auch, wie sich Tatjana und Alexander kennengelernt haben. Ich habe mitgelitten, als sich herausstellte, dass Alexander der Alexander von Dascha war und fand wunderbar traurig, als Tatiana auf ihn verzichtete, weil es ganz viele Männer auf der Welt gäbe, sie aber nur eine Schwester habe.

Etwas schwer tat ich mich mit dem daran anschließenden Versteckspiel und der Verlogenheit, in der Alexander seine Beziehung mit Dascha aufrecht erhält und der Familie als ihr Verlobter gegen über auftritt, während er und Tatiana sich weiterhin treffen. Da hatte ich zumindest Probleme mich weiterhin mit den Protagonisten zu identifizieren.

In dieser Phase des Buches hielt mich somit doch eher die Beschreibung der Lebensumstände im belagerten Leningrad bei der Stange, denn diese sind in ihrer Schrecklichkeit und zugleich Alltäglichkeit, die es in meinen Augen noch schrecklicher macht, wirklich überzeugend eingefangen.

Erst als Tatiana – nach einer Reihe von spannenden und tragischen Ereignissen, die an dieser Stelle noch nicht verraten werden sollen – aufs Land flüchtet und Alexander ihr dorthin folgt, konnte ich mich wieder auf deren Liebesgeschichte einlassen.

Der Rest des Buches schlug mich dann richtig in den Bann. Ich fieberte regelrecht mit, ob es den beiden gelingen würde, den Erpressungen Dimitris zu entgehen und vielleicht sogar zusammen nach Amerika zu entkommen…

Als ich die letzten Seiten las, muss ich zugeben, habe ich sogar ein paar Tränen vergossen.

Fazit:
Ein echter Schmöker, in den man versinken kann.


20. August 2012

Sten Nadolny – Weitlings Sommerfrische

Filed under: Sten Nadolny — Lectrix @ 17:08

Kürzlich schwärmte mir eine Professorin, mit der ich eine Veranstaltung vorbereitete, in der es u.a. darum ging, wie wichtig es sei, manchen Dingen Zeit zu geben, von Sten Nadolny vor. Ich reagierte darauf allerdings recht zurückhaltend, da ich zwar am Ende meiner Schulzeit und dann nochmals zu Beginn meines Studiums mit der Lektüre von „Die Entdeckung der Langsamkeit“ begann, weil mir bereits damals andere davon vorschwärmten, ich aber beide Male schon innerhalb des ersten Kapitels entnervt abbrach.

Als ich vorige Woche in der Bibliothek „Weitlings Sommerfrische“ im Regal sah, erinnerte ich mich jedoch an die Begeisterung der Professorin und beschloss Sten Nadolny mit diesem gerade erschienen Buch eine neue Chance zu geben.

Das vergangene Wochenende, für welches wir aufgrund der Wetterprognosen einen durchgängigen Aufenthalt auf dem Balkon planten, erschien mir ideale Voraussetzungen für die Lektüre zu bieten, da mich keine äußeren Termine drängen würden, ich mich also voll und ganz auf das Buch einlassen könne.

Und…
…schon ab den ersten Seiten gefiel mir der Schreibstil und die Weise, in der Innenansichten des Ich-Erzähler erfasst wurden.

Auch der Anfang der Geschichte sprach mich an:

Ein älterer Herr, bis vor kurzem als Richter in Berlin tätig, nun aber im Ruhestand, genießt einen Aufenthalt in dem Haus am Chiemsee, in dem er aufwuchs, welches aber später verkauft wurde, sodass er es nur noch jeden Sommer mietet, um dort auszuspannen. Bei einem Segeltörn gerät er in ein schnell aufziehendes Unwetter, wodurch er in akute Lebensgefahr gerät.
Ihm fällt in dieser Situation ein, dass er schon als Jugendlicher einmal eine ganz ähnliche Situation erlebte.
Er geriet als Sechszehnjähriger bei einem Segeltörn auf dem Chiemsee bei einem schnellaufziehenden Unwetter in Lebensgefahr.
Damals wurde er gerettet.
Und auch dieses Mal scheint er gerettet zu werden.
Doch seltsam, es ist sein schon lange verstorbener Vater, der ihn aus den Fluten zieht…

Wer denkt da eigentlich, der Junge oder ich? Ich! Ich bin ganz eindeutig nicht er, sondern nach wie vor der alte Mann aus Berlin, aber für andere unsichtbar, Geist ohne Physis, gekettet an einen Sechzehnjährigen aus Stöttham bei Chieming, und wir schreiben offenbar 1958. Ich kann bisher keinen anderen Weg gehen als er, sogar woanders hinschauen kann ich nur mit Mühe, und ich erlebe dieselbe Situation. Seine Gefühle und Gedanken kann ich erraten, auch ein klein wenig mitspüren, habe aber in der Hauptsache meine Gefühle, die des Achtundsechzigjährigen. Handeln kann ich nicht, nur wahrnehmen und in meinem eigenen Ich herumgrübeln, dem des Richters a.D. – wie lange aber soll das gehen? Wahrscheinlich darf ich mir meine Jugend nur noch ein paar Stunden ansehen, um mich dann ganz aufzulösen – adieu, Dr. Weitling! So sieht also eine Rückversetzng in die Jugend wirklich aus. Meine Tagträume und eine Reihe von Filmen ließen mich etwas mehr Handlungsfreiheit erwarten.
[Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische, München: Piper 2012, S. 44]

Sten Nadolny lässt den Ich-Erzähler sich schon bald staunend fragen, wie dieser Junge sich zu ihm weiterentwickeln konnte, und lädt damit den Leser dazu ein, sich selbst zu erinnern. Wenn man an seine eigene Jugend denkt, war da (wirklich) schon abzusehen, wie man sich weiterentwickeln würde und was aus einem wird? Inwieweit ist diese Wahrnehmung dadurch beeinflusst, dass man weiß, was aus einem geworden ist. Erinnert man sich darum vielleicht nur an Passendes? Hätte es andere Möglichkeiten gegeben?

Der ältere Herr scheint entsprechend nicht nur einen Teil seiner eigenen Jugend nochmals erleben/durchleben zu dürfen. Schon bald fallen ihm erste Abweichungen von seinen Erinnerungen auf:

Das Wiedersehen mit meinen Eltern bewegt mich nun doch. Gefühle scheinen sich bei Gespenstern verspätet einzustellen. Schade, dass ich die Mutter nicht umarmen kann. Vater habe ich nie umarmt, Männer taten das nicht.
Ich bin immer noch erstaunt, wie jung sie sind – das Erinnerungsbild, das sich bei mir festgesetzt hatte, war das einer Mutter von Ende fünfzig, eines Vaters von über siebzig. Auch die Betrachtung von Fotos in den Alben konnte dieses Normalbild nicht verjüngen.
Was sie sagen und tun, bestätigt, was ich von ihnen weiß. Einiges irritiert mich auch. Ich erinnere mich an einen imposanteren, eitleren Vater, einen Wortlöwen, der am liebsten sich selbst zuhörte. Vielleicht war er heute zu betroffen von meinem Abenteuer, er schien mir nachdenklich, fast melancholisch. Und Mutter scheint mir ruhiger und milder gewesen zu sein als heute, zugewandter und liebevoller. Ich weiß noch, wie sie mir damals die aufgerissene Hand verbunden hat, fürsorglich und vorsichtig. Nun, das brauchte sie heute nicht. Da ich mir die Hand nicht verletzt hatte, gab es nichts zu verbinden.
Hier unterscheiden sich also die Erinnerung und das Erleben heute. Das bedeutet, ich erinnerte mich bisher falsch! Oder aber, dass ich eben nicht einfach zurückversetzt bin, sondern dass das, was im Moment geschieht, etwas anderes ist als damals.
[Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische, München: Piper 2012, S. 54 f.]

Diese Möglichkeit der Abweichung verunsichert den auf reine Beobachtung beschränkten Alter Ego zunehmend:

Es wird Zeit, wieder einen Berichtstext zu zimmern und zugleich auswendig zu lernen. Aufschreiben kann ich ja immer noch nichts, Geister hinterlassen keine Spur.
Hier ist, was mir während der vergangenen siebeneinhalb Monate besonders auffiel:
Am 28. September 1958, dem letzten Sonntag des Monats, machte Willy eine Wanderung auf den Hochgern. Er geht fast nur auf Berge, von denen aus man den Chiemsee sehen kann. An diese Tour erinnere ich mich noch mit meinem Altersgedächtnis: Sie war herrlich. Diesmal ist sie für mich aber sehr viel unangenehmer, vor allem der Abstieg über die Staudacher Alm. Da geht man zuletzt eine Fahrstraße entlang, neben einem Bachbett mit vielen großen Steinen.
Willy hat plötzlich Lust, den Weg im Bachbett fortzusetzen, er springt von Stein zu Stein weiter ins Tal. Dieses Springen ist für mich eine Tortur: Gut hundert Mal sehe ich Willy abstürzen, weiß vollkommen sicher, daß er den nächsten Stein verfehlen wird. Ebenso sicher weiß der Junge das Gegenteil. Ich sollte ja ruhig bleiben, ich habe gut im Gedächtnis, dass damals nicht das Geringste passiert ist. Aber schon die schwache Möglichkeit, dass die Dinge jetzt auch hier eine andere Wendung nehmen macht mir Angst.
Das ist es, was junge Menschen so unerträglich macht: Von einem Bachbett voller Steine und Wildwasser nehmen sie nur wahr, wie und dass sie sicher hinüberkommen. Mein altes Hirn hingegen sieht einen Sturz nach dem anderen – Abrutschen hier, Verlust des Gleichgewichts dort, dann wieder kippt ein Stein. Jedes Mal sichere Knochenbrüche, wiederholtes Ertrinken, mal mit Schädelbruch, mal ohne. Schließlich ein furchtbar trauriges Begräbnis mit Abschiedsworten von Dekan Klein. Aber erst dann, wenn man die Leiche gefunden hat! Darüber wird es wohl Frühling werden.
Meine Erfahrung und meine Phantasie blicken so viel weiter als die von Willy! Aber er springt einfach, macht sich einen Spaß daraus, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen! Und schafft es sogar. Wirklich, unerträglich.
[Sten Nadolny: Weitlings Sommerfrische, München: Piper 2012, S. 136f.]

In dieser Situation kommte es also zu keiner weiteren Veränderung, aber in einigen anderen Situationen schon. Zumeist handelt es sich nur um Kleinigkeiten, unbedeutend erscheinende Abweichungen von seinen Erinnerungen, aber diese ziehen weitere, größere Veränderungen nach sich, so dass man sich bald zu fragen beginnt, ob es die Zukunft, aus der Weitling kam, überhaupt noch geben wird – ob es also eine Zeit gibt, in die er zurückkehren kann, oder ob er weiter als Zaungast diesem alternativen Verlauf seines Lebens zuschauen muss…

Mit Interesse habe ich weitergelesen.

Das Ende des Buches erscheint mir zwar nicht ganz stimmig – wie soll es aber auch, bei dem geschilderten Geschehen sind Zeitparadoxien wohl kaum zu vermeiden -, die von Sten Nadolny gewählte Lösung gefällt mir dennoch. Sie bietet auf jeden Fall einen versöhnlichen Abschluss.

Ich bin nun froh, dass ich Sten Nadolny eine neue Chance gab und dieses Buch las. Vielleicht wage ich mich demnächst sogar nochmals an „Die Entdeckung der Langsamkeit“.


19. August 2012

Michael Böckler – Mord mit drei Sternen

Filed under: Michael Böckler — Lectrix @ 13:47

Im letzten seiner bisher erschienen Krimis, in denen Hippolyt Hermanus als Ermittler agiert, wählt Michael Böckler Deutschland als Ort des Geschehens.

Der Grund dafür, dass Hippolyt das von ihm so geliebte ‚dolce far niente‘ für eine Weile aufgibt und sich auf eine Reise in seine alte Heimat einlässt, ist eine dringende Bitte des mit ihm befreundeten Bologner Herausgebers von Gourmetzeitschriften und Restaurantführern, ihn bei einer ersten Recherchereise zu begleiten, die Hipp nicht abzulehnen vermag.

Bei der Besprechung in Matteos Bologneser Verlag wurde Hipp den Mitarbeitern als »Consigliere« vorgestellt, als Berater, der in das Projekt seine Kontakte in Deutschland einbringen könne sowie seine außerordentlichen Weinkenntnisse. Hipp musste spontan an Mario Puzos Paten denken und an Tom Hagen, den Consigliere der Familie Corleone. Erfreulicherweise stellte man an ihn andere Erwartungen.
[…]
Als Matteo den Projektnamen nannte, unter dem der Gourmetführer verlagsintern lief, musste Hipp schmunzeln. »Scarafaggio« war ziemlich originell, hieß das doch nichts anderes als »Küchenschabe«. Ob er damit seine Wertschätzung der deutschen Küche zum Ausdruck bringen wollte?
Interessanter wurde es, als Matteo die Kriterien für die Auswahl der Restaurants und der Weine erläuterte. Man wolle ausländischen Besuchern ebenso die Spitzengastronomie näherbringen, die jeder Feinschmecker einfach kennen sollte, wie auch sogenannte »Geheimtipps« mit landestypischer Küche bis hin zum gepflegten Imbiss an der Ecke, an dem sich Businesspeople zum Lunch treffen. Natürlich werde es Bewertungen geben, auch irgendwelche Symbole. Sterne und Kochmützen kämen aus naheliegenden Gründen nicht in Frage. Ideen seien willkommen. Nein, Küchenschaben seien nicht ideal. Obwohl, »das Lokal hat vier Küchenschaben«, das klinge nicht schlecht.
Natürlich müssten in einem Sonderteil die regionalen Spezialitäten der deutschen Küche erläutert werden. Er persönlich komme dafür als Autor nicht in Frage, die »deutsche Hausmannskost« sei ihm ein Greuel. Schon beim Gedanken an »Hamburger Labskaus mit Spiegelei« kriege er Magengrimmen. Und wie man »Rollmops« ins Italienische übersetze, möge er erst gar nicht wissen.
»Aringa arrotolata«, murmelte Hipp.
Matteo sah ihn vorwurfsvoll an. Dann kam er auf den integrierten Weinführer zu sprechen. Die wichtigsten Anbaugebiete, Rebsorten, empfehlenswerte Winzer. Mit Hipps Hilfe würden sie das schon hinbringen. Auch wenn er seine Zweifel habe, ob man deutschen Wein überhaupt empfehlen könne. Ihm sei ein Liebfrauenmilch mit Eiswürfel in unauslöschlicher Erinnerung. Und die Klassifizierung der deutschen Weine verstünden nicht mal die Einheimischen, wie solle man diese dann Ausländern näherbringen. Matteo schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf. »Una gran confusione!«
[Michael Böckler: Mord mit drei Sternen. Ein neuer kulinarischer Fall für Hippolyt Hermanus, München: Knaur 2012, S. 37-38]

Michael Böckler schafft es, nicht nur die Klassifizierung ganz nebenbei recht gut nachvollziehbar zu erläutern, sondern in einem Anhang – wie man diesen schon von den früheren Büchern kennt – auch die üblichsten Trauben und Anbaugebiete knapp vorzustellen.

Darüber hinaus spielt – worauf der Titel ja deutlich anspielt – in diesem Roman die Spitzengastronomie bzw. die Bewertung von Köchen und Restaurants eine große Rolle.

Selbstverständlich kann es bei diesem Thema nicht bei den zu Beginn zum Ausdruck gebrachten pauschalen Vorurteilen über die deutsche Küche bleiben. Schon auf dem Weg nach Deutschland kommt es darum zu einer ersten Relativierung:

Den Brenner hatten sie bereits hinter sich. Auf der österreichischen Inntalautobahn musste Matteo die »cavalli« seines Maserati noch schweren Herzens zügeln. Er sehnte die deutschen Autobahnen herbei.
Weil ihm langweilig war, diskutierte er mit Hipp einmal mehr die Qualität der deutschen Spitzengastronomie. Hipp erinnerte ihn daran, dass der vielleicht beste Koch Italiens ein Deutscher sei, nämlich Heinz Beck vom La Pergola in Rom. Matteo, der dort natürlich schon häufig gespeist hatte, räumte freimütig dessen hohe Meisterschaft ein. Jetzt hätten sie schon zwei herausragende Deutsche in Rom, Papst Benedetto und den Küchenchef Heinz Beck. Nun sei es aber genug!
Matteo sah Hipp lächelnd an. Er gab zu, dass seine spöttischen Bemerkungen über die deutsche Kochkunst nicht immer ganz ernst gemeint seien. Natürlich wisse er, dass es in Deutschland exquisite Köche gebe. Auch wenn er bisher noch wenig Veranlassung gehabt habe, sich persönlich davon zu überzeugen. Schon bald würden sie in Baiersbronn die Probe aufs Exempel machen. Mittagessen im Bareiss und zu Abend in der Schwarzwaldstube im Hotel Traube Tonbach. Die Tische seien bereits reserviert.
Hipp grinste. Claus-Peter Lumpp und Harald Wohlfahrt? Exklusiver könne man wohl kaum beginnen, stellte er fest.
[Michael Böckler: Mord mit drei Sternen. Ein neuer kulinarischer Fall für Hippolyt Hermanus, München: Knaur 2012, S. 48-49]

Allerdings kommt es auch zu nicht viel mehr Besuchen von Restaurants der Spitzengastronomie, da bereits kurz nach dem Besuch dieser beiden Lokale, die ersten Morde passieren und Matteo Pergustino als Tatverdächtiger verhaftet wird, sodass Hippolyt Hermanus sich gezwungen sieht, bei der Aufklärung mitzuwirken.

Ein spannender Krimi beginnt…


Michael Böckler – Tödlicher Tartufo

Filed under: Michael Böckler — Lectrix @ 10:47

Auch wenn auf dem Cover „Der 2. Fall für Hippolyt Hermanus“ steht, handelt es sich bereits um das 3. Buch von Michael Böckler, in dem Hipp die Hauptrolle hat, da die Krimis „Sterben wie Gott in Frankreich“ sowie „Vino Criminale“ sowohl vorher erschienen als auch die beschriebenen Ereignisse nur in dieser chronologischen Reihenfolge Sinn ergeben.

So begegnet man in „Tödlicher Tartufo“ einigen Personen wieder, die man schon in der vorausgehenden Geschichte kennen und lieben lernte:

Hippolyt hatte sich mit Maresciallo Viberti in dessen Lieblings-Osteria zum Essen verabredet. Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dies die einzige Möglichkeit war, ihm Informationen zu entlocken. Wie üblich übernahm es Viberti, das Menü zusammenzustellen, eine Aufgabe, für die er in höchstem Maße qualifiziert war. Hipp stellte amüsiert fest, dass der Maresciallo ein einfaches Konzept verfolgte – indem er nämlich durchgängig jedes Gericht mit Trüffel bestellte, angefangen von Uovo in cocotte con tartufo bianco*, was immer das auch sein mochte, über Tarjarin con tartufo* bis zu Tagliata con tartufo bianco*.
Viberti zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Signor Hermanus, es ist nun mal Trüffelzeit. Nur Ignoranten bestellen im Oktober etwas anderes. Außerdem haben Sie extra den weiten Weg aus der kulinarischen Wüste ins gesegnete Piemont*auf sich genommen.«
»Kulinarische Wüste?«
»Die Toskana, mein lieber Dottore. Ich verstehe sowieso nicht, warum Sie sich gerade dort niedergelassen haben. Nun gut, es gibt ein paar schöne Gebäude, da will ich nichts sagen, die Renaissance ist eine feine Sache. Aber seien Sie doch mal ehrlich, rein kulinarisch hat die Toskana nicht viel zu bieten. Schmecken Ihnen vielleicht Fagioli? Bei den Florentinern muss genetisch irgendetwas passiert sein, dass sie so in weiße Bohnen vernarrt sind. Die Bistecca alla fiorentina ist etwas für englische Touristen. Die Cantuccini aus Prato sind so hart, dass man sie erst in Vin Santo tunken muss, um sie überhaupt essen zu können. Und wie kann man Pecorino über die Pasta reiben, wo es doch wunderbaren Parmigiano gibt? Von der Livorneser Fischsuppe will ich gar nicht reden, eine äußerst unappetitliche Angelegenheit.«
Hipp musste lachen, die Gespräche mit Viberti schienen immer dem gleichen Muster zu folgen. »Sie übertreiben, verehrter Maresciallo. Man kann in der Toskana vorzüglich essen. Zum Beispiel…«
»Zum Beispiel gibt es in der ganzen Toskana kein gutes Risotto«, unterbrach in Viberti, »das ist eine allseitsbekannte Tatsache. Polenta mit Haselnüssen? Fehlanzeige! Einen Brasato al Barolo*? Unbekannt! Agnolotti? Noch nie gehört! Agnolotti con tartufo bianco? Das scheitert schon an der Trüffel!«
»Sie wissen, dass man in der Toskana sehr wohl Trüffeln findet«, merkte Hipp vorsichtig an.
»Ja, das weiß ich. Aber nach meiner subjektiven Einschätzung können sie sich in keinster Weise mit der originären Alba-Trüffel messen. Deshalb ist es besonders dreist, wenn gelegentlich Trüffeln aus der Toskana* oder den Marken* unter unsere königlichen Tartufi d’Alba geschmuggelt werden. In meinen Augen handelt es sich bei diesem Delikt um ein Kapitalverbrechen.«
Hipp reichte Viberti die Weinkarte, in der Hoffnung, seinen Redefluss auf diese Weise zumindest vorübergehend zu unterbrechen. »Darf ich Sie bitten, uns einen Wein auszuwählen.«
Der Mareciallo wehrte die umfangreiche, in Leder gebundene Mappe elegant ab. »Nein, vielen Dank. Erstens kenne ich die Weinkarte auswendig. Zweitens sind Sie der Gastgeber. Und drittens, mein lieber Dottore, mögen Sie zwar beim Essen noch gewisse Bildungsdefizite haben, aber beim Wein verfügen Sie über phänomenale Kenntnisse und einen unübertroffenen Geschmackssinn. Davon habe ich mich mehr als einmal überzeugt. Ich lege mein Schicksal vertrauensvoll in Ihre Hände.«
Hipp schmunzelte. »Soll ich zum Auftakt einen Wein aus der Toskana bestellen?«
Viberti ließ ein leises Stöhnen vernehmen. »Wenn es unvermeidbar ist. Aber bitte keinen Chianti, auf diesen Wein reagiere ich gewöhnlich mit einem allergischen Schock.«
»Also vielleicht doch lieber einen feinen Spumante zum Auftakt. Und danach einen Barbaresco*, wie wäre es mit einem Costa Russi von Angelo Gaja?«
Der Maresciallo küsste seine zu einer Rose geformten Fingerspitzen. »Ottimo, complimenti. Ich wusste ja, ich kann mich auf Ihren noblen Geschmack verlassen.«
[Michael Böckler: Tödlicher Tartufo. Der 2. Fall für Hippolyt Hermanus, München: Knaur 2008, S. 51-54]

Wie man schon aus dem vorhergehenden Buch gewohnt ist, sind zu den mit * gekennzeichneten Begriffen Erläuterungen im Anhang zu finden. So steht dort unter dem Stichwort „Uovo in cocotte con tartufo bianco“ z.B.:

Bei dieser Variante der Fonduta al tartufo kommt ein verlorene (und gut verstecktes) Ei ins Spiel. Zunächst wie beim Rezept für Fonduta (s. dort) eine cremige Käsesauce herstellen. Danach Wasser mit einem Schuss Essig zum Kochen bringen, mit Hilfe einer Suppenkelle ein rohes Ei hineingleiten und so lange stocken lassen, bis das Eiweiß fest ist. Das Ei vorsichtig herausfischen, in eine kleine hitzefeste Form geben, mit der heißen Käsesauce begießen und eine weiße Trüffel darüberhobeln. Im Roman wird Hipp von Viberti im korrekten Verzehr dieser Spezialität unterwiesen. Mit einem kleinen Löffel werden Trüffel, geschmolzener Fontina-Käse und das verlorene (wachsweiche) Ei miteinander verrührt.
[Michael Böckler: Tödlicher Tartufo. Der 2. Fall für Hippolyt Hermanus, München: Knaur 2008, S. 429]

Neben Informationen zu Wein werden also auch in diesem Buch wieder Rezepte und Hintergrundwissen zu regionaltypischen Gerichten und Zutaten geboten. Allerdings werden wir davon wohl kaum welche nachkochen, geht es dieses Mal – wie schon durch den Titel zum Ausdruck kommt – doch vor allem um Trüffel und lernt man schon bald, dass man bei deren Erwerb besser nicht sparen sollte. Trotzdem fand ich interessant, mehr über diesen Pilz zu erfahren.

Darüber hinaus bietet Michael Böckler aber auch noch einen gelungenen Krimi. Dieses Mal gilt es die Morde an einem Trüffelsucher, einem passionierten Weinsammler und einem der Besitzer eines Feinkostversandhandels aufzuklären, bei denen der Erste bei der Trüffelsuche erschossen, der Zweite von einem einstürzenden Weinregal erschlagen und der Letzte in einer Tiefkühltruhe mit Scampi gefunden wurde – es bleibt also in gewisser Weise kulinarisch.

Mir hat die Lektüre gefallen.
Ich kann darum auch diesen Krimi uneingeschränkt weiter empfehlen.


18. August 2012

Michael Böckler – Vino Criminale

Filed under: Michael Böckler — Lectrix @ 16:33

Kurz vor dem Sommerurlaub entdeckte ich, dass es inzwischen drei weitere Krimis von Michael Böckler gibt, in denen Hippolyt Hermanus als Ermittler agiert. Da mich „Sterben wie Gott in Frankreich“, den ich hier bereits vorstellte, ausgesprochen gut gefiel, kaufte ich sie direkt.

Im Laufe des Urlaubs las ich dann erst nochmals „Sterben wie Gott in Frankreich“, dessen Lektüre ich auch beim zweiten Mal genoss, und verschlang dann die drei weiteren Krimis, die meinen hohen Erwartungen vollends gerecht wurden.

„Vino Criminale“ ist das zweite Buch dieser Reihe, wurde von mir deshalb als zweites Buch gelesen und soll darum nun auch als zweites Buch von Michael Böckler vorgestellt werden.

Mit der Vorstellung dieses Krimis habe ich allerdings ein Problem,
denn m.E. kann man keine bessere Werbung für dieses Buch machen, als es der Autor in dem mit „Prefazione“ überschriebenen Kapitel selber macht. Ich werde mich deshalb darauf beschränken, aus diesem zu zitieren:

Hippolyt Hermanus hat ein Faible für gute Weine. Während sich diese Vorliebe im Roman Sterben wie Gott in Frankreich auf Tropfen französischer Provenienz beschränkte, erweist sich Hipp – wie ihn seine Freunde nennen – auf den folgenden Seiten als nicht minder begeisterungsfähig für italienische Weine. Was seinen guten Grund hat, denn nach dem französischen Abenteuer hat es ihn in die Toskana verschlagen, wo er im Selbstversuch die Folgewirkungen des dolce far niente, des süßen Nichtstuns, ergründen möchte. Wozu ihm ein alter Liegestuhl unter einem noch älteren Olivenbaum und ein nicht allzu junger Brunello völlig genügen würden.
Aber das Schicksal zeigt kein Verständnis für dieses kultivierte Phlegma und verstrickt Hippolyt Hermanus erneut in ein mörderisches Spiel. Den Anfang macht ein überaus unglücklicher Zwischenfall in einer anderen, nicht weniger bedeutenden Weinregion Italiens – im Piemont. Womit bereits der Bogen vom Sangiovese zum Nebbiolo geschlagen wäre. Dass dies nicht die einzigen Rebsorten im Roman bleiben werden, versteht sich bei Hipps Profession von selbst – und ist zudem erklärte Absicht. Denn mit diesem Buch soll nicht nur eine hoffentlich spannende Geschichte erzählt, sondern auch gleichzeitig Basiswissen über italienische Weine vermittelt werden. In Verbindung mit dem umfangreichen Anhang, in dem alle Weinbauregionen Italiens vorgestellt werden, die wichtigsten Rebsorten und bekannte Winzer, könnte die Lektüre zu begleitenden Weinproben Anlass geben. Auch wären kulinarische Exkursionen zu den Originalschauplätzen möglich, jedenfalls sind im Anhang alle vorkommenden Restaurants (und Hotels) sorgsam protokolliert. Da Hipp und seine Schutzbefohlene Sabrina – wie zudem ein gewisser Maresciallo Viberti von den Carabinieri – neben dem Wein auch dezidiert dem guten Essen zugetan sind, wird etwaigen Nachkochgelüsten mit authentischen Rezepten im Anhang entsprochen. Als kleine Hilfestellung sind alle Stichwörter im Roman, die sich im Anhang wiederfinden (zumindest bei ihrer ersten Erwähnung), mit einem * gekennzeichnet.
Genug der Vorrede. Noch glaubt Hipp, dass er sich in der Toskana einige ruhige Wochen machen könnte. Maresciallo Viberti träumt von einem feinen Risotto mit Trüffeln. Sabrina lauscht der rauchigen Stimme von Paolo Conte. Und Eva-Maria? Sie wird nicht mehr lange leben!
[Michael Böckler: Vino Criminale. Ein kulinarischer Fall für Hippolyt Hermanus, München: Knaur 2006, S. 7f.]


James Krüss – Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen

Filed under: James Krüss — Lectrix @ 12:59

Wer der in den frühen 70er Jahren Geborenen erinnert sich nicht an den in der Weihnachtszeit gesendeten Fernseh-Mehrteiler „Timm Thaler“? Wer verfolgte nicht gebannt die Geschichte, um den Jungen, der sein Lachen verkaufte? Wer hoffte nicht, dass es ihm gelingen würde, es von dem unheimlichen Baron zurück zu bekommen?

Aber hat sich jemand von uns gefragt, wer sich diese Geschichte ausdachte? Ich habe daran damals jedenfalls keinen Gedanken verschwendet.

Als mir vor einigen Wochen mein Lebenspartner eine Erstausgabe dieses Buches, welche er in einem Nachlass entdeckt hatte, mitbrachte, reagierte ich darum zunächst nur aufgrund meiner positiven Kindheitserinnerungen erfreut.

Jetzt – nachdem ich diesen Roman – meinem Lebenspartner vorgelesen habe, möchte ich das Buch aber unabhängig von der damaligen Verfilmung weiter empfehlen.

Da das Buch 1962 bereits erschien, wirkt der Schreibstil natürlich etwas altmodisch. Auch an der Kleidung und dem konkreten Verhalten der agierenden Personen merkt man, dass der Roman zwar in der Gegenwart spielt, diese Gegenwart aber die Nachkriegszeit war. Sieht man darüber hinweg, stellt man jedoch fest, dass die Geschichte eigentlich zeitlos und die enthaltende Moral immer noch gültig ist.

Es ließ sich sehr gut vorlesen, erwies sich als deutlich sozial-kritischer als ich die Verfilmung in Erinnerung habe und für ein Kinderbuch recht komplex.

Um einen Eindruck zu vermitteln, was ich damit meine, zitiere ich einfach den Beginn des ersten Abschnittes des Buches, der mit „Der erste Tag, an dem erzählt wird, wie der kleine Timm Thaler aufwächst, wie ihn ein großes Unglück trifft, wie sich sein Leben dadurch völlig ändert und wie er mit einem karierten Herrn einen merkwürdigen Vertrag abschließt.“ überschrieben ist:

In den großen Städten mit den breiten Straßen gibt es hinten hinaus heute noch Gassen, die so eng sind, daß man sich durch die Fenster von einer Seite zur anderen die Hand reichen kann. Wenn fremde Besucher, die viel Geld und viel Gefühl haben, zufällig in so eine Gasse geraten, dann rufen sie: Wie malerisch! Und die Damen seufzen: Wie idyllisch und romantisch!
Aber das Idyllische und Romantische sind großer Humbug; denn hinten hinaus wohnen Leute, die wenig Geld haben. Und wer in einer großen reichen Stadt wenig Geld hat, wird grämlich, neidisch und nicht selten zänkisch. Das liegt nicht nur an den Leuten, sondern auch an den Gassen.
Der kleine Timm kam mit drei Jahren in so eine enge Gasse. Seine lustige, rundliche Mutter war gestorben, und der Vater musste, da es zu jener Zeit wenig Arbeit gab, auf den Bau gehen.
[James Krüss: Timm Thaler oder das verkaufte Lachen, Hamburg, Verlag Friedrich Oetinger 1962, S. 20]

Zusätzlich erlaube ich mir, die folgende Passage zu zitieren, die für mich die Kernaussage der Geschichte um Timm Thaler enthält:

Gerade in diesem Augenblick kam der Baron zurück. Und wieder einmal schien er dasselbe wie Timm beobachtet und die Gedanken des Jungen erraten zu haben. Während er sich setzte, sagte er: »Sie sehen, Herr Thaler, daß der Unterschied zwischen Menschen und Tieren nicht groß ist; er ist sozusagen kaum wahrnehmbar.«
»Ich habe über den Unterschied jetzt schon drei Meinungen kennengelernt«, sagte Timm leicht verwirrt. »In einem Hamburger Theater hieß es, das Lachen unterscheidet Mensch und Tier, und es war damit gemeint, daß nur der Mensch lachen kann; auf den Bildern im Museum [Ikonen im byzanthinischen Museum in Athen] war es aber umgekehrt, da lachten die Tiere und niemals ein Mensch; und Sie, Baron, erzählen mir jetzt, daß es überhaupt keinen Unterschied gibt zwischen Mensch und Tier.«
»Nichts auf der Welt ist so einfach, daß man es mit einem Satz erklären könnte«, antwortete Lefuet. »Und was das Lachen für den Menschen bedeutet, das, mein lieber Herr Thaler, weiß überhaupt niemand genau.«
Timm erinnerte sich plötzlich an eine Bemerkung Jonnys und wiederholte sie halb für sich, aber laut genug, daß der Baron sie verstehen konnte: »Lachen ist Freiheit nach innen.«
Die Wirkung dieses Satzes auf Lefuet war merkwürdig. Er stampfte mit dem Fuß auf und rief: »Das hat dir der Steuermann gesagt!«
Timm sah ihn verwundert an, und plötzlich wußte dieser Junge von vierzehn Jahren, dieses halbe Kind, warum der Baron ihm sein Lachen abgekauft hatte und warum sich der düstere karierte Herr auf dem Rennplatz so sehr von dem jetzigen Baron Lefuet unterschied. Er war ein freierer Mann geworden; und es machte ihn wütend, daß Timm das entdeckt hatte.
[James Krüss: Timm Thaler oder das verkaufte Lachen, Hamburg, Verlag Friedrich Oetinger 1962, S. 146]

Wer dieser Steuermann Jonny ist und wie Timm sein Lachen wieder bekommt, sollte aber jeder durch eigene Lektüre heraus finden.

Interessanterweise gibt es in dem Buch darüber hinaus noch eine Rahmenhandlung, die eine weitere Ebene eröffnet.

Darum beende ich meine Vorstellung mit dem Zitat des Anfangs dieses Romans:

Es war in einem Zug von Magdeburg nach Leipzig, in einem langsamen, schmutzigen, überfüllten Zug, wie sie zu jener Zeit, nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, dreckigen schwarzen Rauch ausstoßend, überall durch Deutschland klapperten. Ich wohnte damals in der Nähe Hamburgs und fuhr zu einer Druckerei nach Leipzig.
Der Zug war so überfüllt, daß selbst draußen auf den Plattformen zwischen den Waggons die Leute sich drängten. Ich aber war ohne mein Zutun in ein Abteil hineingeraten, indem außer mir nur ein einzelner Herr saß, der, was in jenen Tagen ungewöhnlich war, eine Sonnenbrille trug. Ich hatte beim Eintreten gedacht, es sei ein Diplomatenabteil, und mich zurückziehen wollen; aber der Herr hatte mich ausdrücklich hereingewinkt, und so saß ich nun ihm gegenüber am Fenster.
Er war ein etwas rundlicher Mann unbestimmten Alters, der einen dunklen Anzug anhatte. In seiner Brusttasche trug er ein blütenweißes Ziertaschentuch, dem, wie ich beim Näherkommen bemerkte, ein schwacher Nelkengeruch entströmte. Im Gepäcknetz über ihm ruhte ein schwarzer Koffer.
»Diese übervollen Züge sind etwas Schreckliches«, sagte er, als ich mich gesetzt hatte. »Sind Sie privat unterwegs?« Er sprach einen Akzent, den ich damals noch nicht kannte. Erst später kam ich darauf, daß es der Akzent eines Italieners war.
Ich antwortete ihm, daß ich eigentlich mehr dienstlich unterwegs wäre. »Ich muss in Leipzig ein Buch korrigieren«, sagte ich.
»Ah«, sagte er, »Sie schreiben Bücher. Interessant. Ich hörte gerade, daß es Leute gibt, die davon leben, daß sie bestimmte Bücher nicht schreiben, die sie ursprünglich hatten schreiben wollen.«
»Und was für Leute sind das?« fragte ich.
»Die Weisen, Wissenden, die Welt und Menschen durchschauen«, sagte er. »Sie lassen sich ihr Schweigen von den Mächtigen bezahlen, die keinen Wert darauf legen, das Weisheit allgemein verbreitet wird.«
»Aber ist der, der käuflich ist, denn weise?«, fragte ich.
»Das kann man von verschiedenen Seiten sehen«, sagte der Herr.
[James Krüss: Timm Thaler oder das verkaufte Lachen, Hamburg, Verlag Friedrich Oetinger 1962, S. 12]


5. August 2010

Paul Auster – Unsichtbar

Filed under: Paul Auster — Lectrix @ 22:30

In der Stadtbibliothek Osnabrück werden neuangeschaffte Bücher, bei denen ein Ausleihinteresse vieler Nutzer erwartet wird, zunächst im vorderen Bereich ausgestellt und ohne Verlängerungsmöglichkeit nur für einen verkürzten Zeitraum gegen eine kleine Gebühr verliehen.

Normalerweise entleihe ich so gut wie nie eines der Bücher mit diesem Sonderstatus, da man sie bereits einige Zeit später ja unter den üblichen Bedingungen entleihen kann.
Doch als ich das neue Buch von Paul Auster darunter entdeckte, dessen Übersetzung ins Deutsche soeben erschien,  nahm ich diese Möglichkeit der frühzeitigen Ausleihe doch in Anspruch.

Mit dem Anfang dieses Buches tat ich mich dann überraschend schwer. Nicht das es schlecht geschrieben wäre. Nein, es ist schon sehr gut beschrieben, wie Leute miteinander ins Gespräch kommen, die sich auf einer Party langweilen. Aber eigentlich schien mir dies belanglos. Falls Paul Auster diese Belanglosigkeit einfangen wollte, gelang ihm dies glänzend. Und auch, als dem Ich-Erzähler später von dem auf diese Weise kennengelernten Mann, Geld zur Gründung einer Literaturzeitschrift angeboten wurde, riss mich nicht mit. Auch wenn sich allmählich der unangenehme Charakter dieses Mannes anzudeuten begann, der offensichtlich gewohnt war, dass stets alles so lief, wie er es wünschte. Selbst die sich anschließend ergebende merkwürdige Dreierkonstellation zwischen dem Ich-Erzähler, dem Mann und dessen Lebenspartnerin nahm ich eher zur Kenntnis, wobei der Drang des Mannes Abhängigkeiten zu schaffen und auszunutzen sowie sein Jähzorn nun offensichtlich werden.  Inhaltlich interessant wurde es für mich erst, als dieser Mann einen Mord beging – und damit den Ich-Erzähler, der Zeuge davon wurde, in moralische Konflikte brachte, die glaubwürdig und absolut nachvollziehbar beschrieben werden. Da war ich froh, dass ich das Buch vorher nicht weggelegt hatte.

Stilistisch faszinierend wird es für mich dann, als nach dem bis jetzt vorgestellten ersten Teil des Buches, überschrieben mit „Frühling“, ein neuer Ich-Erzähler übernimmt, der knapp erläutert, wie er an den Text des ersten Ich-Erzählers gekommen ist, den er in sein Buch aufgenommen hat, und wie er dem ersten Ich-Erzähler, der in einem Brief darüber klagte, dass er beim Verfassen des Berichts über die weiteren Geschehnisse ins Stocken geraten sei, hilft, indem er ihm den einfachen Rat erteilt, nicht mehr als der Ich-Erzähler zu fungieren, sondern die Perspektive zu wechseln. Woraufhin der zweite Teil, überschrieben mit „Sommer“, überraschend das Personalpronomen „Du“ verwendet. Dieser Teil beginnt wie folgt:

Aus Frühling wird Sommer. Für Dich ist es der Sommer nach dem Frühjahr des Rudolf Born [= der reiche Mann aus dem ersten Teil], für den Rest der Welt aber ist es der Sommer des Sechstagekriegs, der Sommer der Rassenunruhen in mehr als hundert amerikanischen Städten, der Summer of Love. Du bist zwanzig Jahre alt und hast soeben dein zweites Jahr am College hinter dich gebracht. Als der Krieg im Nahen Osten ausbricht, überlegst du, ob du in die israelische Armee eintreten und Soldat werden sollst, dabei bist du überzeugter Pazifist und hast niemals das geringste Interesse am Zionismus bekundet, doch bevor du einen Entschluss fassen und irgendwelche Pläne machen kannst, ist der Krieg plötzlich zu Ende, und du bleibst in New York.
Dennoch spürst Du das starke Bedürfnis, das Land zu verlassen, irgendwo anders zu sein als dort, wo du jetzt bist, und daher hast du bereits den Dean aufgesucht und ihm gesagt, du möchtest ein Jahr lang im Ausland studieren (nach einer schwierigen Debatte mit deinem Vater, der schließlich widerwillig zugestimmt hat). Du hast dich für Paris entschieden. Dorthin gehst du nicht nur, weil dir Paris, wo du zum ersten Mal vor zwei Jahren warst, besonders am Herzen liegt, sondern auch, weil du dein Französische vervollkommnen willst, das zwar schon ganz gut ist, aber noch besser sein könnte. Du bist dir bewusst, dass Born in Paris lebt, zumindest nimmst du das an, kommst aber nach reiflicher Überlegung zu dem Ergebnis, dass die Chance, ihm dort zufällig zu begegnen, überaus klein ist. Und falls das Unwahrscheinliche doch eintreten sollte, fühlst du dich gewappnet, den Umständen entsprechend darauf zu reagieren. Was soll so schwer daran sein, sich einfach abzuwenden und an ihm vorbeizugehen?
(Paul Auster: Unsichtbar, aus dem Englischen von Werner Schmitz, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag Juli 2010, S.99 f.)

Schauplatz des kompletten zweiten Teils, überschrieben mit „Sommer“, bleibt aber New York. Ausführlich wird dabei auf das inzestiöse Verhältnis zwischen diesem „Du“ und seiner Schwester eingegangen, wobei zwar sehr genau beobachtet wird, dies aber nirgends ins Pornographische abgleitet.

Erst im dritten Teil, überschrieben mit „Herbst“ und nun tatsächlich in der dritten Person verfasst, reist der Hauptprotagonist nach Paris, wo es zu einem erneuten Zusammentreffen mit dem reichen Mann des ersten Teils, sowie dessen ehemaliger Lebenspartnerin, seiner Zukünftigen und deren Tochter kommt, deren Vertrauen der  Hauptprotagonist sich zu erschleichen bemüht, um…

Was der Hauptprotagonist vorhat und ob dieses gelingt,  soll an dieser Stelle aber besser doch nicht verraten sein, ebenso wie die Gründe für die Veröffentlichung des Buches durch jemand anderes und andere Zusammenhänge, die erst gegen Ende aufgedeckt werden,
denn das Buch ist wert, selbst gelesen zu werden.


27. Juni 2010

Hans Fallada – Jeder stirbt für sich allein

Filed under: Hans Fallada — Lectrix @ 22:30

Lange ist es her, dass ich einen Roman von Hans Fallada las,
und auf diesen wurde ich auch nur deshalb in der Bibliothek aufmerksam, weil mich das Titelbild – ein Ausschnitt aus dem Gemälde „Angst“ von Felix Nussbaum – stutzen ließ.

Jetzt überlege ich, ob und wem man dieses Buch empfehlen kann, denn es handelt sich ganz sicher um keine vergnügliche Lektüre, weil zutrifft, was Hans Fallada selbst in seinem Vorwort schreibt:

Mancher Leser wird finden, dass in diesem Buch reichlich viel gequält und gestorben wird. Der Verfasser gestattet sich darauf aufmerksam zu machen, daß in diesem Buch fast ausschließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitlerregime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern. In diesen Kreisen wurde in den Jahren 1940-1942 und vorher und nachher ziemlich viel gestorben. […] Es hat dem Verfasser oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet.
[Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein, 3. Auflage, Berlin, Aufbau Taschenbuch Verlag 1994, S. 5]

Mehr mitgenommen als die Schilderung der offiziellen Verhöre, der in diesem Rahmen geschehenen Folterungen und der vielen billigend in Kauf genommenen Todesfälle, hat mich jedoch die Schilderung des alltäglichen Lebens mit der allgegenwärtigen Angst eines jeden vor jedem anderen aufgrund der allseits üblichen Denunziationen.

Dies gelingt Hans Fallada mit recht schlichten Worten und einfachen Satzstrukturen eindringlich zu vermitteln.

Hinzu kommt, dass dieses Buch bereits im Jahre 1946 geschrieben wurde und der Autor sich auf eine wahre Begebenheit bezieht, die er in einer Gestapo-Akte entdeckte.

Es gab tatsächlich ein Ehepaar in Berlin, welches sich zu einem ganz privaten, kleinen Widerstand entschloss und zwei Jahre lang Postkarten in Normschrift mit aufrührischen Texten beschriftete und in fremden Treppenhäusern ablegte, in der Hoffnung auch andere wachzurütteln.

Dieses Wissen macht das Buch für mich noch ergreifender.
Es macht es zu einer Art Denkmal.

Auch wenn dieses Buch dem Leser einiges zumutet,
sollte man sich darum darauf einlassen.


12. Juni 2010

Simon Winchester: Der Mann, der die Wörter liebte

Filed under: Simon Winchester — Lectrix @ 13:00

Um dieses Buch angemessen vorzustellen, habe ich mich dafür entschieden, sein Ende zu zitieren:

Das war die Geschichte eines amerikanischen Soldaten, der bei der Erschaffung des größten Wörterbuches der Welt mitwirkte. Sein Beitrag ist einzigartig, bewundernswert und unvergeßlich, doch seine Geschichte ist unsäglich traurig. Man könnte leicht vergessen, daß William Chester Minor eigentlich nur deswegen in der Lage war, all seine Zeit und Energie der Entwicklung des Oxford English Dictionary zu widmen, weil er einen grausamen und unverzeihlichen Mord begangen hatte.
Sein Opfer, George Merritt, war ein ganz gewöhnlicher, unschuldiger Bauernsohn aus Wiltshire, der nach London gezogen war, um dort sein Glück zu suchen, und der eine schwangere Frau und sieben kleine Kinder zurückließ, als er erschossen wurde. Die Familie lebte bereits in größter Armut und war bemüht, in ihrem verkommenen Winkel in einem der übelsten Viertel der viktorianischen Hauptstadt wenigstens einigermaßen in Würde durchzukommen. Nun wurde alles noch schlimmer.
[…]

Nur klägliche Überreste retten das Andenken an jene beiden Menschen, deren Schicksal auf so tragische Weise miteinander verbunden war. An William Minor erinnert lediglich ein kleiner Grabstein auf einem Friedhof in New Haven, der mitten in den Slums liegt. An George Merritt erinnert seit Jahren überhaupt nichts, außer einem Fleckchen grauen Rasens auf einem weitläufigen Gräberfeld in Südlondon. Minor hat jedoch einen Vorteil – das große Wörterbuch, die vielleicht bleibendste Erinnerung an ihn. Doch nichts gemahnt daran, daß der Mann, den er getötet hat, ebenfalls ein würdiges Andenken verdient. George Merritt ist ein vollkommen unbesungener Held.
Deshalb scheint es heute, nach mehr als 125 Jahren, angemessen, dieser schlichten Darstellung die Widmung voranzustellen, die ihr vorausgeht. Und deshalb soll dieses Buch ein bescheidener Nachruf auf George Merritt aus Wiltshire und Lambeth sein, ohne dessen viel zu frühen Tod diese Geschichte niemals erzählt worden wäre.
[Simon Winchester: Der Mann, der die Wörter liebte. Eine wahre Geschichte, aus dem Englischen von Harald Stadler, München: Albrecht Knaus Verlag 1998, S. 262f. u.265]

Dieses Zitat verdeutlicht meines Erachtens gleich mehrere Aspekte, die mir bezüglich dieses Buches bemerkenswert erscheinen:

Zunächst wird deutlich mit welcher Menschenfreundlichkeit alle Beteiligten bedacht werden – dies entspricht dem Tenor des gesamten Buches, in dem jedem Menschen mit seinen Eigenheiten Respekt und in hohem Maße Verständnis entgegen gebracht wird.

Zudem erhält man einen Eindruck von dem gehobenen aber gut lesbaren Schreibstil.

Außerdem wird erkennbar, dass es sich weder um einen reißerischen Roman noch um ein trockenes Sachbuch handelt, sondern um ein literarisches Werk, dem ein Sachthema obliegt.

Denn auch wenn das Buch ausdrücklich dem Ermordeten gewidmet wurde, nimmt dessen Lebensgeschichte darin nur wenig Raum ein. Wesentlich mehr Raum wurde der Beschreibung des Lebens des Mörders eingeräumt. Doch geht es eigentlich um etwas anderes, nämlich um die Entstehung des Oxford English Dictionary. Eine Geschichte, die durch dieses Buch interessant vermittelt wird, das Hochachtung für diese Leistung weckt.


5. Juni 2010

Mark Twain: Huckleberry Finns Abenteuer

Filed under: Mark Twain — Lectrix @ 22:00

Direkt im Anschluss an die von Andreas Nohl vorgenommene Neuübersetzung von Mark Twains „Tom Sawyers Abenteuer“ las ich die ebenfalls von Andreas Nohl vorgenommene Neuübersetzung von Mark Twains „Huckleberry Finns Abenteuer“, wobei ich feststellen musste, dass ich diese überhaupt noch nicht kannte.

Dieses Mal kamen somit Spannung, wie die einzelnen Abenteuer wohl enden mögen, zusammen mit Begeisterung hinsichtlich der Erzählweise und Erstaunen über die – trotz aller in der Geschichte enthaltener Gesellschaftskritik dennoch – ersichtlich werdende Verwobenheit Mark Twains in die gesellschaftlichen Vorurteile seiner Zeit.

So gibt es zum Einen in Kapitel 31 die phantastische Passage mit einem inneren Monolog Huckleberry Finns, die ich folgend zitiere:

Ich ging zum Floß zurück und setzte mich in das Wigwam, um nachzudenken. Aber es nutzte nichts.  Ich dachte, bis mir der Schädel brummte, aber ich fand keinen Ausweg. Nach der ganzen langen Reise und allem, was wir für diese beiden Halunken getan hatten, standen wir plötzlich vor dem Nichts, alles war zerstört und im Eimer, weil sie es fertigbrachten, Jim so reinzulegen und ihn wieder lebenslang zum Sklaven zu machen, und auch noch bei Fremden, für vierzig schmutzige Dollar.
Auf einmal dachte ich, es wäre tausendmal besser für Jim, wenn er zu Hause Sklave wäre, dort, wo seine Familie war, wenn er nun schon mal Sklave sein musste, und dass ich am besten einen Brief an Tom Sawyer schrieb und ihm sagte, er sollte Miss Watson sagen, wo er steckte. Aber ich gab den Plan bald wieder auf, aus zwei Gründen: sie war natürlich wütend und empört, dass er so niederträchtig und undankbar gewesen war, sie zu verlassen, und würde ihn sofort wieder den Fluss runter verkaufen. Und wenn nicht, so hat jeder für einen undankbaren Nigger natürlich nur Verachtung übrig und lässt es ihn die ganze Zeit spüren, und so kommt er sich gemein und entehrt vor. Und dann denkt mal an mich! Es würde sich überall rumsprechen, dass Huck Finn einem Nigger zur Freiheit verholfen hat. Und wenn ich je noch mal jemanden aus der Stadt treffen würde, dann müsste ich mich vor ihm in den Staub werfen und ihm vor Scham die Stiefel lecken. So läuft es nämlich immer: Ein Mensch stellt was Mieses an, aber dann will er dafür nicht geradestehen. Er denkt, solange er’s verbergen kann, ist es keine Schande für ihn. Und genauso war’s bei mir. Je länger ich drüber nachdachte, umso mehr nagte mein schlechtes Gewissen an mir und umso schlechter und mieser und gemeiner kam ich mir vor.  Und am Ende, als mir plötzlich klar wurde, dass mir die Hand der Vorsehung voll eine ins Gesicht schlug und mir zu verstehen gab, dass meine Schlechtigkeit die ganze Zeit oben im Himmel gesehen wurde, während ich einer armen alten Frau ihren Nigger wegnahm, die mir nie etwas getan hatte, und dass da immer Einer aufpasst, der nicht erlaubt, dass solche Schandtaten nur so weit und nicht weiter getrieben werden, da hätte es mich vor Angst fast umgehauen. Naja, ich strengte mich mächtig an, irgendwie mildernde Umstände für mich vorzubringen, ich sagte mir, ich bin schlecht erzogen worden und deshalb hab ich nicht so viel Schuld. Aber eine innere Stimme sagte: »Es gab die Sonntagsschule, die hättest du besuchen können. Und wenn du das getan hättest, dann hätten sie dir dort beigebracht, dass Leute, die so handeln wie ich an dem Nigger, zum ewigen Feuer verdammt sind.«
Es machte mir Gänsehaut. Und ich nahm mir fest vor, zu beten und zu versuchen, nicht die Sorte Junge zu sein, die ich war, sondern besser zu werden. Also kniete ich mich hin. Doch die Worte wollten nicht kommen. Warum nicht? Es hatte keinen Sinn, zu versuchen, es vor Ihm zu verbergen. Und auch vor mir nicht. Ich wusste nur zu gut, warum sie nicht kamen. Es war, weil mein Herz nicht gut war. Es war, weil ich nicht anständig war. Es war, weil ich ein doppeltes Spiel trieb. Ich tat so, als wollte ich die Sünde aufgeben, aber tief drin in mir beging ich die größte überhaupt. Ich versuchte, meinen Mund dazu zu bringen, dass er sagte, ich will das Richtige und Gute tun und mich hinsetzen und der Besitzerin des Niggers schreiben und ihr sagen, wo er steckt, aber tief in mir drin wusste ich, dass es eine Lüge war – und Er wusste das. Man kann keine Lügen beten, das habe ich herausgefunden.
So war ich voller Sorgen, so voll wie’s nur ging, und wusste nicht, was ich machen sollte. Schließlich kam mir eine Idee, und ich sagte mir, ich setze mich hin und schreibe den Brief – und dann schaue ich, ob ich beten kann. Meine Güte, es war erstaunlich, wie leicht ich mich auf einmal fühlte, leicht wie eine Feder, und alle meine Probleme waren weg. Also nahm ich mir einen Zettel und einen Stift, richtig froh und begeistert, und setzte mich hin und schrieb:

Miss Watson, Ihr abgehauner Nigger Jim ist hier unten zwei Meilen flussabwärts von Pikesville und Mr. Phelps hat ihn jetzt und gibt ihn für die Belohnung zurück, wenn Sie sie schicken. HUCK FINN

Ich fühlte mich gut und zum ersten Mal in meinem Leben von Sünde reingewaschen, und ich wusste, dass ich jetzt beten konnte. Aber ich machte es nicht gleich, sondern legte den Zettel hin und dachte erst noch mal nach. Ich dachte, was für ein Glück ich hatte, dass alles so gekommen war, und dass ich beinahe verloren gewesen und in die Hölle gekommen wäre. Und ich grübelte weiter und dachte an unsere Reise den Fluss runter. Und die ganze Zeit sah ich Jim vor mir, am Tag und in der Nacht, manchmal im Mondlicht, manchmal bei Unwetter, und wie wir weiter trieben, redeten und sangen und lachten. Doch irgendwie fiel mir nichts ein,  was mich gegen ihn einnahm, sondern nur im Gegenteil. Ich sah, wie er für mich die Wache zusätzlich zu seiner übernahm, statt mich zu rufen – so dass ich weiterschlafen konnte. Und ich sah, wie glücklich er gewesen war, als ich aus dem Nebel zurückkam. Und wie ich ihn im Sumpf wieder fand, dort oben, wo die Fehde war. Und lauter solche Dinge. Und wie er mich immer Junge nannte und mich in den Arm nahm und alles für mich tat, was ihm nur einfiel. Und dann fiel mir noch ein, wie ich ihn gerettet hatte, als ich den Männern erzählte, wir hätten die Pocken, und wie dankbar er war und sagte, das sei der beste Freund, den der alte Jim auf der Welt hatte, und der einzige, der ihm noch geblieben war. Und dann sah ich auf, und mein Blick fiel zufällig auf den Zettel.
Es war ausweglos. Ich nahm ihn in die Hand und hielt ihn vor mich hin. Ich zitterte regelrecht, weil ich wusste, dass ich mich für alle Ewigkeit zwischen zwei Dingen entscheiden musste. Ich betrachtete ihn eine Minute lang, fast mit angehaltenem Atem, und dann sagte ich:
»Na gut, dann komm ich eben in die Hölle“« und zerriss ihn.
(Mark Twain: Huckleberry Finns Abenteuer, in: Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn, hrsg. und übersetzt von Andreas Nohl, München: Carl Hanser Verlag 2010, S. 513-516)

Aber zum Anderen, wird Jim anders beschrieben als alle die Erwachsenen in diesem Buch, die weiß sind. So gibt es zwar jede Menge leicht zu betrügendes Volk, aber niemand wird als so gutmütig, abergläubisch, hilfsbereit aber dennoch völlig unselbständig wie Jim dargestellt. Das stimmt nachdenklich, wird dadurch doch wiederum ein – wenn auch sicherlich positiv gemeintes – bedenkliches Bild vom Schwarzen tradiert.

Davon abgesehen handelt es sich aber um einen wunderbare Geschichte mit vielen spannenden Episoden: sei es zu Beginn die Schilderung von Huckleberrys Flucht vor seinem Vater; sei es der Moment, als Jim von der Schlange gebissen wird; sei es die Szene, in der Huckleberry versucht, sich als Mädchen auszugeben; sei es der Moment, als die Sklavenjäger sich dem Floss nähern; sei es die Kollision mit dem Schaufelraddampfer…  Sehr amüsant und sicherlich unvergesslich werdend, die Ausführungen zu den diversen, mehr oder weniger erfolgreichen Aktionen des Königs und des Herzogs, um durch Betrug zu Geld zu kommen… Nur bezüglich der letzten Kapitel bin ich unsicher – auch wenn ich zugeben muss, dass mich dort etliche der Szenen zum Schmunzeln brachten – denn ich finde, dabei erstens zu überraschend (oder der epischen Kausalität unterworfen), dass ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt und Ort Tom Sawyer auftaucht, und zweitens, dass die immer kompliziertere Inszenierung der Befreiung Jims als Spiel der beiden Jungs, die entstandene Freundschaft zwischen Huckleberry und Jim in Frage stellt – doch vielleicht war dies gerade die Absicht Mark Twains, die Brüchigkeit von beginnenden Veränderungen aufzuzeigen, falls dem so sein sollte, ist es ihm gelungen.

So oder so, kann ich die Lektüre nur empfehlen.


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