Lectrix – Notizen einer Leserin

28. Mai 2010

Mark Twain: Tom Sawyers Abenteuer

Filed under: Mark Twain — Lectrix @ 18:00

Mitte April wurde im Deutschlandradio Kultur auf eine beachtenswerte Neuübersetzung von Mark Twains ‚Tom Sawyer‘ sowie ‚Huckleberry Finn“  aufmerksam gemacht, die gerade im Hanser Verlag erschienen ist. Dabei wurde vor allem gewürdigt, dass dem Übersetzer und Herausgeber Andreas Nohl gelungen wäre, die sprachlichen Besonderheiten und den Charakter der Erzählung tauglich ins Deutsche zu übertragen. Mein Interesse weckte jedoch insbesondere der Hinweis, dass zwar die meisten die Lausbubengeschichten um Tom Sawyer bereits als Kind gelesen bzw. zumindest die Verfilmung gesehen hätten, man jedoch erst bei der Lektüre dieser Erzählung als Erwachsener entdecken wird, dass Mark Twain in satirischer Weise ein Bild der rückständigen, rassistischen und abergläubischen Gesellschaft der amerikanischen Südstaaten liefert.

Bei nächster Gelegenheit erwarb ich deshalb die 2010 erschienene gebundene Ausgabe aus dem Carl Hanser Verlag, obwohl in den Buchhandlungen anlässlich des aktuell anstehenden 100. Todestages von Mark Twain auch etliche preiswertere Taschenbuchausgaben auslagen. An dieser Stelle sei bereits angemerkt, dass sich die Mehrinvestion nicht nur wegen der Neuübersetzung, sondern auch wegen des schönen Gesamteindrucks dieser Ausgabe sowie des ausführlichen Nachwortes und der zahlreichen Anmerkungen am Ende des Buches bezahlt macht.

Die Lektüre war hinsichtlich der enthaltenen Abenteuer – das sei zugegeben – nicht sonderlich spannend, denn selbstverständlich kennt man diese und ihren jeweiligen Ausgang.  Als Beispiele seien an dieser Stelle genannt: wie Tom, die anderen Jungs dazu bringt, für ihn den Zaun zu streichen; wie Tom, sich den Bibel-Preis erschleicht; wie Tom mit Joe und Huckleberry Finn auf eine Insel fliehen und später ihrer eigenen Beerdigung beiwohnen; wie Tom und Huckleberry Finn Indianer Joe bei einem Mord auf dem Friedhof beobachten, den dieser jedoch einem anderen anzuhängen versucht;  wie die beiden dann versuchen Indianer Joe seinen Schatz abzujagen und natürlich, wie Tom und Becky sich in der Höhle verirren… All das fiel mir spätestens wieder ein, wenn ich zu der jeweiligen Passage kam.

Umso interessanter war jedoch, was im Rahmen bzw. am Rande dieser für Kinder spannenden Handlungen nebenbei erzählt wird – wobei ich mich noch frage, ob ich als Kind einfach darüber hinweg las, weil ich es nicht verstand, oder ob es in der damaligen Kinderausgabe vorsorglich als nicht kindgerecht  weggekürzt wurde…

Als Beispiel sei der ‚Prüfungstag‘ angeführt, bei dem dem Leser vorab schon angekündigt wird, dass die Schüler einen Komplott ausheckten, um sich an dem ihnen so verhassten Lehrer eindrucksvoll zu rächen. Natürlich wusste ich noch, dass der Lehrer den Rohrstock sehr schnell zur Hand hatte. Natürlich wusste ich noch, dass er ein tyrannisches Wesen hatte. Außerdem wusste ich noch, dass es den Jungen gelang, das Toupet des Lehrers während der öffentlichen Prüfungen von seinem Kopf zu angeln und ihn mit zuvor vergoldetem Haupt vor sämtlichen Honoratoren der Stadt bloß zu stellen.  Aber an diese Passage dazwischen konnte ich mich nicht erinnern:

Und nun war der Höhepunkt des Abends an der Reihe – selbst verfasste Aufsätze der jungen Damen. Nacheinander traten sie an den Rand der Bühne, räusperten sich, hielten ihr Manuskript (mit hübschen Bändern gebunden) in die Höhe und begannen zu lesen, wobei sie sorgfältigst auf »Betonung« und »Satzzeichen« achteten. Die Themen waren die gleichen wie diejenigen, die bei ähnlichen Gelegenheiten schon von ihren Müttern, ihren Großmüttern und zweifellos von sämtlichen weiblichen Vorfahren bis zurück zu den Kreuzzügen erschöpfend behandelt worden waren. »Freundschaft« lautete eines; »Erinnerungen an verflossene Tage«; »Religion in der Geschichte«; »Traumland«; »Die Überlegenheit der Kultur«; »Vergleich und Gegenüberstellung unterschiedlicher Regierungsformen«; »Melancholie«; »Kindesliebe«; »Sehnsucht des Herzens« usw. usf.
Ein hervorstechendes Merkmal dieser Aufsätze war die liebevoll gehegte und gepflegte Missgelauntheit, ein anderes der verschwenderische und überschäumende Erguss »guten Stils«, ein weiteres die Neigung, besonders gewählte Worte und Phrasen an den Haaren herbeizuzerren, bis sie vollkommen abgedroschen waren. Und eine Besonderheit, die sie kennzeichnete und verunstaltete, war die unvermeidliche und schwer zu ertragende Moralpredigt, die am Ende eines jeden Aufsatzes mit ihrem verkrüppelten Schwanz wedelte. Gleichgültig, um welches Thema es ging, es wurde in einer hirnmarternden Anstrengung so hingebogen, dass das sittliche und fromme Gemüt sich daran erbauen konnte. Die schreiende Heuchelei dieser Moralpredigten war jedoch kein Grund, diesen Brauch von der Schule zu verbannen, und sie ist es bis heute nicht. Sie wird es wahrscheinlich nie sein, solange die Welt besteht. Es gibt keine Schule in unserem Land, wo die jungen Damen sich nicht genötigt sehen, ihre Aufsätze mit einer Moralpredigt abzuschließen. Und man wird feststellen, dass die Moral des leichtfertigsten und am wenigsten frommen Mädchens stets die längste und frömmlerischste ist. Doch genug hiervon. Die schlichte Wahrheit ist ungenießbar.
Kehren wir zur »Prüfung« zurück. Der erste Aufsatz, der vorgelesen wurde, trug den Titel: »Ist dies tatsächlich das Leben?«
(Mark Twain: Tom Sawyers Abenteuer, in: Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn, hrsg. und übersetzt von Andreas Nohl, München: Carl Hanser Verlag 2010, S. 161f.)

Hier argwöhne ich, dass in einer gekürzten Fassung dabei einfach der Abschnitt zwischen,  „Und nun war der Höhepunkt des Abends an der Reihe – selbst verfasste Aufsätze der jungen Damen. Nacheinander traten sie an den Rand der Bühne, räusperten sich, hielten ihr Manuskript (mit hübschen Bändern gebunden) in die Höhe und begannen zu lesen, wobei sie sorgfältigst auf »Betonung« und »Satzzeichen« achteten.“ und „Der erste Aufsatz, der vorgelesen wurde, trug den Titel: »Ist dies tatsächlich das Leben?«“ fortgelassen wurde. Ich bin aber nicht sicher.

So geht es mir während der Lektüre an etlichen Stellen – und stets werden diese Einschübe von mir als wertvolle Randbemerkungen empfunden.

Bei anderen Passagen fürchte ich jedoch, dass sie auch in der Kinderausgabe enthalten waren, von mir jedoch – im Rückblick erschreckend – nicht als zu problematisierende Szenen wahrgenommen wurden. Hierzu als  Beispiel einen Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen Tom und Huckleberry Finn, in dem sich selbst die Sympathieträger der Geschichte ganz nebenbei als völlig vom rassistischen Gedankengut ihrer Gesellschaft durchdrungen zeigen:

»Klingt gut. Und wo willst Du dann schlafen?«
»In Ben Rogers Heuboden. Er hat nichts dagegen und auch der Uncle Jake, der Nigger von seinem Pa, nicht. Ich schlepp immer Wasser für Uncle Jake, wenn er will, und jedes Mal, wenn ich ihn frage, gibt er mir was zu essen ab, wenn er’s übrig hat. Das ist ein wahnsinnig netter Nigger, Tom. Er mag mich, weil ich nie so tu, als ob ich was Bessres wäre als er. Manchmal setze ich mich sogar zu ihm und ess mit ihm. Aber das musst Du nicht weitersagen. Man tut manchmal Sachen, wenn man sehr hungrig ist, die man sonst nicht tun würde.«
(Mark Twain: Tom Sawyers Abenteuer, in: Mark Twain: Tom Sawyer & Huckleberry Finn, hrsg. und übersetzt von Andreas Nohl, München: Carl Hanser Verlag 2010, S. 203)

Mit dem Abstand etlicher Jahre und in dieser Zeit sensibilisiert für gewisse Themen liest man Tom Sawyers Abenteuer so auf völlig neue Weise.

Ich kann die (erneute?) Lektüre dementsprechend jedem nur empfehlen.


26. Juli 2008

Michael Böckler: Sterben wie Gott in Frankreich

Filed under: Michael Böckler — Lectrix @ 7:55

Dieser Roman wurde mir von einer Freundin geliehen, die sich sicher war, dass er mir gefallen würde.
Sie hatte Recht. Ich habe ihn in meinem Urlaub mit größtem Genuss gelesen.

Neben reizvollen Beschreibungen Südfrankreichs und einer schönen Liebesgeschichte bietet dieser Roman einen durchdachten Kriminalfall, der vielleicht nicht sonderlich reißerisch und in diesem Sinne fesselnd sein mag, aber aufgrund der ungewöhnlichen Thematik und der damit verbundenen andersartigen Leidenschaften durchweg interessant bleibt und schließlich zu einer stimmigen Lösung führt.

Als wohltuend empfand ich insbesondere den niveauvollen Schreibstil, auf den man – meines Erachtens – bei modernen Krimis allzu oft verzichten muss, weil entweder zu viele meinen, dass es bei diesem Genre nicht darauf ankommt, oder sogar die Auffassung vertreten, dass Geschichten mit einem Privatermittler ’schnoddrig‘ klingen müssten.

Aber der Privatermittler dieses Romans, Hippolyt Hermanus, hat nicht nur einen ungewöhnlichen Namen, sondern ist auch durchaus außergewöhnlich. Eine gehobenere Ausdrucksweise passt sowohl zu ihm als auch zu seinem Sujet. Sein erster Auftritt im Rahmen einer exklusiven Weinverkostung ist sehr gelungen, aber zu lang zum Zitieren und soll deshalb dem Lesen im Gesamtzusammenhang vorbehalten bleiben. Als Leseprobe wurde deshalb seine nachfolgende Vorstellung heran gezogen:

Praunsberg stellte die Flasche wieder ab und wendete sich an seinen Freund Karl, der Hipp mitgebracht hatte. »Ich denke, du bist uns eine Erklärung schuldig!«
Karl Talhammer hob grinsend und in gespielter Verzweiflung die Hände in die Höhe. »Weil du mich nie ausreden lässt. Du bist selbst schuld. Ich wollte dir doch zu Beginn unbedingt erzählen, dass Hipp Hermanus ein Spezialgebiet hat. Aber du wolltest nichts davon wissen…«
»Du hast gesagt. er ist Psychologe, war bei der Polizei und arbeitet jetzt als privater Ermittler.«
»Siehst du, du unterbrichst mich schon wieder«, entgegnete Talhammer. »Er arbeitet als privater Ermittler, das ist richtig, aber fast ausschließlich auf seinem Spezialgebiet, und das sind nun mal die Weine.«
»Was gibt es da zu ermitteln? Etwa die Rebsorte und den Jahrgang?«, fragte Schmid.
»Nein, rund um den Wein, vor allem bei den teuren Flaschen und den so genannten Raritäten gibt es viele Betrügereien«, erklärte Karl Talhammer. »Erst heute haben wir mit Hilfe von Hipp Hermanus einen geschickt angelegten Versicherungsbetrug eines Privatsammlers aufgedeckt, der uns über eine Million Euro gekostet hätte. Vorige Woche sind bei einer Auktion in London einige Flaschen Château d’Yquem aus dem 19. Jahrhundert unter den Hammer gekommen. Hipp ist sich sicher, dass sie aus einem schon länger zurückliegenden Einbruch in England stammen und dass die Dokumente über die Herkunft manipuliert sind. Und dann gibt es noch all diese Fälschungen, sündteure Flaschen, in denen alles Mögliche ist, aber nur nicht der Wein, der auf den Etiketten steht.«
»So etwas gibt es?« Schmid schaute entsetzt.
»Ja, leider«, erklärte Praunsberg, »diese Raritäten werden gehandelt, versteigert, unter der Hand verkauft…«
»… und versichert«, fuhr Talhammer fort. »Wenn da jemand ermitteln soll, dann muss er sich bei Weinen extrem gut auskennen. Hipp ist aus sehr privaten Gründen aus dem Polizeidienst ausgeschieden, hat sich scon immer intensiv mit Wein beschäftigt und besitzt sogar einen Abschluss an der berühmtesten Sommelier-Schule in Bordeaux. Mit dieser Kombination, erstens Psychologe, zweitens ehemaliger Sonderermittler bei der Polizei und drittens Weinexperte, ist er für uns unersetzbar. Auch wenn er als Mensch nicht immer ganz einfach ist und so seine Eigenarten hat…«
(Michael Böckler: Sterben wie Gott in Frankreich. Ein Wein-Roman, München: Knaur 2004, S. 37-39)

Damit dürfte nun auch hinreichend geklärt sein, dass – auch wenn Morde geschehen und aufgeklärt werden sollen – Wein das eigentliche Thema liefert. Sei es als Tatwaffe, Motiv, Leidenschaft oder allgegenwärtige Begleitung.

Sehr erfreulich fand ich bei der Lektüre insbesondere, das von Michael Böckler angewendete Mittel, über die vielen Informationen zu Weinen und Besonderheiten der französischen Regionen, die schon angenehm in die Geschichte verpackt sind, häufig am Seitenrand auch noch ergänzende Erklärungen unterzubringen, die dem weinunkundigen Laien das Verständnis erleichtern oder auch einfach interessante Zusatzinformationen liefern, die in den Text zu integrieren unpassend und den Lesefluss hemmend gewesen wären, aber mir dennoch äußerst willkommen waren.

Das recht umfangreiche Supplement am Ende des Buches, in dem die an den Seitenrändern aufgeführten und noch weitere Informationen enthalten sind, ist zum Nachlesen geeignet.

Ich habe bei der Lektüre auf jeden Fall recht viel über Wein gelernt
– bin aber vor allem angeregt worden, bewusster Wein zu trinken.

Der Roman führt also noch über das Lesen hinaus zu Genuss.


18. Mai 2008

Françoise Dorner: Die letzte Liebe des Monsieur Armand

Filed under: Françoise Dorner — Lectrix @ 13:00

Eine liebenswerte Geschichte, die ich dieses Wochenende mit Genuß las.

Mit Gespür für die leisen zwischenmenschlichen Töne, sowohl für unauffällige Aufmerksamkeiten als auch für unterschwellige Gemeinheiten, sowie einer gehörigen Portion Humor erzählt Françoise Dorner von dem verwitweten älteren Herrn Monsieur Armand und der noch auf der Suche befindlichen jungen Frau Pauline, die nach und nach eine innige Beziehung zueinander aufbauen. Dabei geht es weniger um Sexualität als um Respekt. Etwas, was beide ersehnen, doch von Ihrer sonstigen Umgebung vermissen.

»Komisch, daß sie gedacht hat, Sie wären mein Großvater! Finden Sie, daß wir uns ähnlich sind?«
Verdattert sah ich sie an. Ich hatte die Mutmaßung ihrer Chefin dem Altersunterschied zugeschrieben, und sie dachte ganz schlicht an Familienähnlichkeit.
»Schon möglich, daß wir etwas gemeinsam haben. Sie sind aber nicht verpflichtet, mit mir zu essen, Pauline.«
Mit verschmitztem Lächeln zog sie mich vorwärts. Im Gehen kostete ich den Augenblick aus, in dem ich sie zum erstenmal beim Vornamen genannt hatte. Bei einer kleinen Grünanlage hinter einer Kirche sagte sie, ich solle die Augen zumachen und auf sie warten. Vergnügt schloß ich die Augen. Nach einigen langen Minuten riß ich sie wieder auf, von jäher Angst gepackt, sie hätte mich vergessen. Oder hätte jemanden Interessanteres getroffen als mich. Doch da kam sie gelaufen. Aus einer Papiertasche zog sie zwei Coca-Cola, zwei Portionen Ketchup und zwei Hot dogs. Welche Schmach, so alt zu sein, dachte ich, nicht des Alters wegen, sondern weil ich im Lauf der Jahre so viel Gleichgültigkeit, Frechheit und Verrat erlebt hatte, daß ich niemandem mehr traute.
»Mögen Sie Hot dogs?«
Würstchen mit Ketchup hatte ich wohl seit einem halben Jahrhundert nicht gegessen. Coca-Cola hingegen trank ich bisweilen, hinterm Rücken meiner Kinder. Cola, Zigaretten, Philosophie, Stille, alles, was ich liebte, verabscheuten sie.
»Ja, sehr«, sagte ich leise. »Was bin ich schuldig?«
»Sie bezahlen das nächste Mal«, damit öffnete sie ihr Tütchen Ketchup.
»Mit Vergnügen«, sagte ich, um einen sachlichen Ton bemüht, und schnappte mir forsch die Cola wie ein Junger.
(Françoise Dorner: Die letzte Liebe des Monsieur Armand, Zürich: Diogenes 2007, S. 25 f.)

Nachträge


10. April 2008

Eliot Pattison: Das Auge von Tibet

Filed under: Eliot Pattison — Lectrix @ 23:55

Da mir „Der fremde Tibeter“ so gut gefiel, suchte ich bei meinem nächsten Besuch in der Stadtbibliothek gezielt nach dem folgenden Krimi aus der Reihe mit dem Ermittler Shan, den ich dann auch gleich verschlang.

Dieser Roman spielt zwar hauptsächlich in Xinjiang, aber natürlich kommt den Sichtweisen der tibetischen Mönche eine tragende Rolle zu. Und ebenso wie im vorherigen Buch geht es wieder um den Erhalt von Kunstschätzen und Traditionen – in diesem Fall insbesondere der Lebensart der kasachischen Nomaden dieser Region, die durch Programme der chinesischen Regierung zur „Förderung des Wohlstands der Minderheiten“ oder „Beseitigung der Armut“ ohnehin gefährdet wird, welche jedoch erst in der von Machtstreben gelenkten Auslegung durch gewissenlose Einzelne an Brisanz gewinnen. Diese sind aber nicht der Beweggrund für die Tötung einer Lehrerin und die nach und nach erfolgenden grausamen Morde an den zehnjährigen Waisen, die von ihr bei verschiedenen Nomadenfamilien untergebracht und betreut wurden. Während Shan sich einerseits bemüht die Aufenthaltsorte der Waisen herauszufinden, um sie zu warnen, wodurch er sie zu retten erhofft, versucht er andererseits zu ergründen, um was es bei diesem Fall eigentlich geht. Zu viele verschiedene Gruppen mit jeweils eigenen Interessen scheinen beteiligt oder zumindest damit verwoben zu sein: tibetische Nomaden, Angehörige der tibetischen Widerstandsbewegung, tibetische Mönche, amerikanische Archäologen, russische Emigranten, kasachische Nomaden, kasachische und uigurische Unabhängigkeitskämpfer, chinesische Beamte, chinesische Militärs…

Eliot Pattison gelingt es in diesem Buch wieder zugleich einen spannenden Krimi zu erzählen, der eine schlüssige Aufklärung hat, und Einblick in die tibetische Weltsicht zu geben, aber auch ein Gefühl für die Komplexität der Probleme im Süden Chinas zu vermitteln, denn auch in diesem Buch gibt es auf allen Seiten Personen, die guten Willens sind.


21. März 2008

Agatha Christie: Die Morde des Herrn ABC

Filed under: Agatha Christie — Lectrix @ 22:15

Da wir seit meinem Geburtstag nach und nach die in der mir geschenkten DVD Collection enthaltenen Folgen der BBC-Verfilmungen von Agatha Christie Kurzgeschichten mit David Suchet als Hercule Poirot genießen, kam ich auf die Idee meinem Lebenspartner den Krimi „Die Morde des Herrn ABC“ vorzulesen, der einer der ersten Poirot-Fälle gewesen sein muss, den ich las.

Er beginnt mit einer schriftlichen Herausforderung, die direkt an Hercule Poirot gerichtet ist:

Monsieur Hercule Poirot – Sie lösen doch die heiklen Fälle, deren unsere schwerfällige englische Polizei nicht gewachsen ist oder sie brüsten sich jedenfalls damit, nicht wahr? Jetzt wollen wir doch mal sehen, kluger Mr. Poirot, wie klug Sie sind! Vielleicht ist sogar Ihnen diese Nuß zu hart. Richten Sie Ihr Augenmerk auf Andover am 21. dieses Monats.
Vorzügliche Hochachtung
ABC

Während zu diesem Zeitpunkt noch gehofft werden kann, dass es sich dabei nur um einen Scherz handelt, bestehen nach einem an besagtem Tag in Andover verübten Mord und einem auf ähnliche Weise ebenfalls zuvor angekündigten Mord in Bexhill-on-Sea, bei Eingang der Warnung hinsichlich Churston kaum noch Zweifel, dass auch da ein Mord geschieht und sich diese Serie fortzusetzen droht… Aber was ist das Motiv? Und wie kann der Mörder entlarvt und gestoppt werden?

Mir hat dieses Buch wieder gefallen.
Mein Lebenspartner fand es auch gut.
Wir werden somit in Zukunft sicherlich weitere Poirot-Fälle lesen.


9. März 2008

Eliot Pattison: Der fremde Tibeter

Filed under: Eliot Pattison — Lectrix @ 11:30

Für die gemeinsame Lektüre dieses Romans haben wir zwar länger gebraucht als sonst, dies lag aber sicher nicht an mangelndem Interesse, sondern lediglich an mangelnder Gelegenheit zum Vorlesen, denn der Roman hat uns sehr gut gefallen.

Eliot Pattison gelingt es, einen packenden – und sich zunehmend als komplexer herausstellenden – Krimi zu erzählen, der zugleich die schwierigen politischen Verhältnisse in Tibet thematisiert und die Lebenseinstellung buddhistischer Mönche vermittelt.

Für den westlichen Leser ist auf jeden Fall gewöhnungsbedürftig, dass diejenigen, für deren Entlastung sich die Hauptperson engagiert, selbst so wenig Interesse an einer Aufklärung des Falls zeigen. Erwartungsgemäß scheinen am Anfang aber die Chinesen wenigstens per se die Bösen zu sein – abgesehen natürlich von der Hauptperson, die aber auch in Ungnade gefallen und zur Strafarbeit in einem Lager verurteilt wurde. So einfach macht es sich der Autor jedoch nicht. Stattdessen sind in allen vorkommenden Volksgruppen intelligentere und naivere, bessere und verwerflichere Akteure auszumachen, handele es sich nun um Chinesen, Tibeter, Europäer oder Amerikaner. Und nach und nach werden die Beweggründe aller Beteiligten nachvollziehbar.

Im Gewand eines Kriminalromans liefert dieses Buch wertvolle Hintergrundinformationen zum gegenwärtig wieder mehr in den Blick der internationalen Öffentlichkeit kommenden Diskussion um die Tibetfrage.

Wir können die Lektüre nur empfehlen!


20. Februar 2008

Diane Broeckhoven: Ein Tag mit Herrn Jules

Filed under: Diane Broeckhoven — Lectrix @ 22:15

Auf der heutigen Bahnfahrt von Stuttgart nach Hause las ich diese wunderbare Geschichte.

Diane Broekhoven hat wundervoll einfühlsam eingefangen, wie eine alte Frau morgens ihren soeben verstorbenen Mann entdeckt, seinen Tod aber niemanden mitteilt, sondern sich stattdessen noch einen letzten gemeinsamen Tag mit ihm gönnt. Sehr schön auch die Herausforderung, die aus dem Besuch des autistischen Nachbarskinds erwächst, das an diesem Tag ebenso wie jeden Ferientag um 10 Uhr zum Schachspiel mit ihrem Mann herüberkommt und selbstverständlich nicht einfach abgewiesen werden kann…

Er hatte alles verstanden. Ein lebloser Mann auf einem Sofa und eine alte Frau, die dieser vollendeten Tatsache ins Auge sah, paßten in sein Auffassungsvermögen. Das strahlte Sicherheit aus. Jules würde definitiv auf seinem Platz bleiben, die Hände mit den Knien verschmolzen, die halbgeschlossenen Augen auf nichts gerichtet, das Erstaunen wie ein Strich zwischen Nase und Kinn gekerbt. Sie selbst würde nicht weiter als ein paar Meter aus Davids Blickfeld verschwinden, solange er hier war. Nichts Unerwartetes würde in diesem Zimmer geschehen, in dem alles seinen Platz hatte, wie bei einem Schachspiel. Das beruhigte David. Und sie ebenfalls.
Es war für Alice ein Moment der Einsicht, der wortlosen Freude.
(Diane Broeckhoven, übersetzt von Isabel Hessel, 4. Auflage, München: Ch. Beck 2005, S. 74)

Ich kann dieses Buch nur weiterempfehlen, denn es streichelt die Seele.


18. Februar 2008

Jose Saramago: Eine Zeit ohne Tod

Filed under: Jose Saramago — Lectrix @ 22:32

… und wieder hat mich ein Buch von José Saramago überzeugt.

Erneut mit vielen Kommas, zum Teil recht eigenwilligem Satzbau und kaum Absätzen – dafür aber mit der Bereitschaft konsequenter weiterzudenken als man dies gemeinhin tut:

Der Silvesterabend hatte nicht den üblichen unheilvollen Rattenschwanz von Todesfällen nach sich gezogen, es war, als hätte die alte Atropos mit ihrem gefletschten Pferdegebiss beschlossen, ihre Schere für einen Tag ruhen zu lassen. Blut floss dennoch, und nicht zu knapp. Verwirrt, bestürzt, ihren Brechreiz mühsam unterdrückend zogen die Feuerwehrleute menschliche Körper aus den Trümmern, die nach der mathematischen Logik von Zusammenstößen mausetot hätten sein müssen, trotz der Schwere ihrer Verletzungen und der erlittenen Traumata jedoch noch immer am Leben waren und mit herzzerreißendem Sirenengeheul in die Krankenhäuser eingeliefert wurden. Keiner dieser Menschen sollte auf dem Weg dorthin sterben, und alle sollten die pessimistischen ärztlichen Prognosen widerlegen. Der arme Teufel hat keine Chance, man sollte ihn gar nicht erst operieren, wie beispielsweise der Chirurg zu der Krankenschwester sagte, während diese ihm den Mundschutz umband. Und tatsächlich hätte der Arme am Vortag vielleicht nicht gerettet werden können, doch an diesem Tag weigerte sich das Unfallopfer ganz entschieden zu sterben. Und was hier geschah, das geschah im ganzen Land.“
(José Saramago: Eine Zeit ohne Tod, übersetzt von Marianne Gareis, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 11 f.)

Anstatt sich also unnötig mit der Freude aufzuhalten, die die Menschen empfinden könnten, wenn sie feststellen, dass sie nicht mehr sterben, wendet sich José Saramago direkt den Problemen zu, die mit den ausbleibenden Todesfällen auf die Gesellschaft dieses Landes zu kommen: die Erbfolge gerät in Verzug, wenn die Königinmutter nicht stirbt + Krankenhäuser füllen sich, in Anbetracht der Akkumulation Todkranker und Schwerstverletzter + Familienangehörigen stehen nicht enden wollende Pflegezeiten der Alten bevor + den in der Beerdigungsbranche Beschäftigten (Totengräber, Sargtischler, Leichenbestatter) droht Arbeitslosigkeit+ Lebens- und Rentenversicherungen müssen sich etwas einfallen lassen und nicht zuletzt gerät die Kirche in eine existentielle Sinnkrise …

Welche Lösungen José Saramago Kirche, Versicherungen, Politik und Maphia (sic!) einfallen lässt, soll hier natürlich nicht vorab verraten werden. Sie spiegeln allerdings deutlich wider für wie korrupt und menschenverachtend er diese hält.

Verraten werden muss jedoch, dass José Saramago in diesem Fall nicht nur konsequent von einem einfachen Grundgedanken ausgehend – in „Stadt der Blinden“ „Alle Menschen werden blind.“ hier nun „Kein Mensch stirbt mehr.“ – ein Gedankenexperiment mit allen sich ergebenden Konsequenzen durchdenkt, sondern in diesem Roman auch noch ins Metaphysische / Phantastische wechselt und tod (sic!) personifiziert selbst auftreten und ihr Handeln begründen lässt.

Dadurch wird der Kreis derjenigen, für die dieses Buch zu empfehlen ist, sicherlich noch weiter eingeschränkt.

Mir hat es aber ausgesprochen gut gefallen, inbesondere da José Saramago nicht nur kritisch Gesellschaft und Politik vorführt sowie Respektlosigkeit religiösen Überzeugungen gegenüber an den Tag legt, sondern darüber hinaus auch eine ganze Menge Humor, eine herrliche Stelle voller Selbstironie und sogar eine gute Portion Romantik einfließen lässt.


15. Januar 2008

Julia Franck: Lagerfeuer

Filed under: Julia Franck — Lectrix @ 21:45

Dieses Buch wurde mir zu Weihnachten geschenkt.

Ich kann das gut nachvollziehen, wurden diesem Buch doch eine Reihe guter Kritiken zu teil, klingt der Klappentext äußerst vielversprechend und macht sich auch die erste Seite – beim Probelesen – sehr gut.

Das ganze erste Kapitel „Nelly Senff fährt über eine Brücke“ fand ich dann auch ausgesprochen gut.

Als Kurzgeschichte könnte ich dieses erste Kapitel uneingeschränkt weiterempfehlen.

Auch einige der anderen Kapitel und die Schicksale, die in ihnen zum Ausdruck kommen – z.B. „Hans Pischke im Glück“ – gefielen mir.

Aber das Buch als Ganzes nicht, denn die Ansammlung dieser Geschichten, die natürlich Schnittpunkte haben, aber dennoch recht vereinzelt nebeneinander stehen bleiben, konnte mich nicht begeistern. Insbesondere das Ende wirkte auf mich alles andere als überzeugend.

Schade.


26. Dezember 2007

Neil Gaiman: Stardust – Der Sternwanderer

Filed under: Neil Gaiman — Lectrix @ 23:00

Auch in diesem Jahr schenkten wir denen, bei denen wir die Weihnachtsfeiertage verbrachten, wieder ein Buch zum Vorlesen.

Unsere Wahl fiel aus verschiedenen Gründen auf „Stardust – Der Sternwanderer“ – sicherlich nicht zu letzt weil „Coraline“ in diesem Kreis bereits so gut ankam.

Berichtenswert ist in diesem Fall vermutlich aber eher, wie wir auf diese Geschichte aufmerksam wurden. Wir erfuhren von ihr nämlich durch eine Kinoankündigung – die Filmrezension klang vielversprechend, der Trailer war verlockend und als wir dann entdeckten, dass die Buchvorlage von Neil Gaiman stammte, war das Interesse endgültig geweckt und wir machten uns auf den Weg zur nächsten Buchhandlung, um uns genauer zu informieren. Dort fanden wir schnell heraus, dass es inzwischen bereits unterschiedliche Ausgaben (zumeist ‚zum Film‘) von verschiedenen Verlagen gibt, die zwar textidentisch zu sein scheinen (zumindest bei einigen Stichproben) sich aber in der Aufmachung doch sehr unterscheiden. Da es ein Geschenk werden sollte für jemanden, der Bücher zu schätzen weiß, entschieden wir uns für die Ausgabe vom Verlag Panini, denn zur Zeit enthält anscheinend nur diese die eigentlich dazu gehörenden und auch wunderbar passenden Illustrationen von Charles Vess.

Am 1. und 2. Weihnachtstag las uns unsere Gastgeberin das Buch dann in einem echten Vorlesemarathon vor, dem wir – völlig in Bann geschlagen – aufmerksam folgten.

Es handelt sich um ein wunderschönes Märchen für Erwachsene, das ich als solches uneingeschränkt weiterempfehlen kann.
(„als solches“, weil es mir für Kinder an einigen Stellen doch zu hart erscheint, auch wenn dem anwesenden Knaben dies nichts auszumachen schien.)


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